Mitternachtskinder
einmal mehr, was das erste Stück war, denn ich brachte es nicht über mich, den Blick von ihnen abzuwenden, um ins Programm zu schauen. Neben mir war Dee ganz still geworden, während die Streicher mit ihren Instrumenten klagten und lockten, lieblich und melodiös. Ich seufzte, und irgendein wesentlicher Teil von mir wurde endlich einmal ruhig und hörte zu.
Mir war nichts mehr bewusst außer der Musik und der Tatsache, dass Dees Hand in meiner lag.
Als das Stück beendet war, ließ sie die Finger in meiner Hand ruhen, und wir klatschten albern unsere freien Hände aneinander. Das Ensemble spielte zwei weitere Stücke, keines davon so umwerfend wie das erste, doch beide ließen mich erschauern. Dann löste Dee sich von mir und flüsterte: »Toilette.«
Lautlos schlüpfte sie von ihrem Platz und ließ mich sitzen. Meine Hand vermisste das Gewicht ihrer Hand und fühlte sich kühl an, weil Dees Schweiß unter der Klimaanlage trocknete.
Ich hörte mir halbherzig zwei weitere Stücke an, bis ich gar nicht mehr aufhören konnte, an den Schweiß auf ihrer Hand zu denken. Im Stillen fragte ich mich, ob sie wirklich mal gemusst hatte oder aus irgendeinem anderen Grund hinausgegangen war. Es war so kalt, dass ich nicht entscheiden konnte, ob die Gänsehaut an meinen Armen von der eisigen Raumtemperatur kam oder die Gegenwart von etwas Übernatürlichem anzeigte. Ich fühlte mich wie blind.
Hastig stand ich auf und schlich zur Hintertür hinaus, ohne mich darum zu kümmern, ob mich jemand gehen sah. Draußen am Saaleingang entdeckte ich einen offiziellen Türsteher, der sich in seiner Zirkusuniform scheinbar nicht recht wohl fühlte. Ich fragte ihn nach den Toiletten. Dann hatte ich die Eingebung, mich bei ihm zu erkundigen, ob Dee hier vorbeigekommen war. »Dunkles Haar, widerlich hübsch, muss man sagen, etwa so groß.«
Seine Augen leuchteten auf. »Sie hat gesagt, sie bräuchte etwas frische Luft. Sie sah aus, als wäre ihr übel. Ich habe sie hoch auf den Balkon geschickt.«
Er deutete die mit burgunderrotem Teppich ausgelegte Treppe hinauf in den ersten Stock.
»Danke, Butler James«, sagte ich und rannte die Stufen hinauf. Ich folgte dem schmalen Flur und probierte eine Tür nach der anderen, bis eine sich zu einem kleinen Balkon öffnete. Von hier aus genoss man den Ausblick auf die hässliche Gasse hinter dem Theater und die Rückseiten mehrerer Geschäfte, und links von uns war ein schmaler Streifen der Straße und des lebhaften Verkehrs zu sehen. Ich trat in die willkommene Hitze hinaus und schloss die Tür hinter mir.
An die Wand gelehnt, saß Dee auf dem Boden und blickte zu mir auf, als sich die Tür mit einem Klicken schloss.
Wohl zum ersten Mal in meinem Leben sagte ich zu ihr genau das, was ich dachte. »Geht es dir gut?«
Dee sah vor der weißgestrichenen Wand sehr klein aus. Flehentlich streckte sie einen Arm nach mir aus und imitierte damit bewusst oder unbewusst meine Geste, als ich sie allein auf der Rückseite meines Wohnheims gefunden hatte.
Ich setzte mich neben sie, und sie lehnte sich an mich. Unter uns hupte es, ein Motorradmotor knatterte, und irgendwelches Baumaterial klapperte. Zum zweiten Mal in meinem Leben sagte ich genau das zu ihr, was ich dachte, obwohl ich es nicht so meinte, wie sie es vermutlich verstand. »Ich habe dich vermisst.«
»Mir war kalt. Ich hätte einen Pulli mitnehmen sollen. Siehst du, wie völlig hilflos ich bin ohne Mom, die mir genau sagt, was ich tun muss?« Ihre Stimme klang ironisch.
»Ein einziges Chaos«, stimmte ich zu. Ich hatte einen Arm um sie gelegt. Mein Herz hämmerte, während ich den Mut zusammenkratzte, um ihr zum dritten Mal zu sagen, was ich wirklich dachte. Ich schloss die Augen und schluckte. Und tat es. »Dee, warum bist du wirklich rausgegangen? Was hast du?«
Ich hatte es tatsächlich laut ausgesprochen.
Aber das nützte nichts, denn sie antwortete nicht. Sie löste sich aus meinem Arm, stand auf und trat ans Geländer. Sie beobachtete die Autos, als seien sie das Wichtigste auf der Welt. So lange blieb sie dort stehen, dass ich schon fürchtete, jemand könnte uns vermissen und sich auf die Suche machen. Ich erhob mich und trat zu ihr ans Geländer, von wo aus wir schweigend die Welt betrachteten.
Dee sah mich an. Ich spürte ihren prüfenden Blick auf meinem Gesicht, meinem Haar, meinen Schultern. Es war, als analysierte sie mich irgendwie oder schätzte mich ab. Als wollte sie sehen, wie ich mich nach neun Jahren Freundschaft so
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