Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mitternachtskinder

Mitternachtskinder

Titel: Mitternachtskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
Vom Netzwerk:
Füßen schob ich meine Decke weg, so dass sie einen weichen Haufen bildete, wo Nuala gerade gesessen hatte. Blätter flatterten zu Boden, trocken und leblos. »Wir gehen mit meiner Mutter Mittag essen.«
     
    Mom ist unfähig, pünktlich zu sein. Diese Unfähigkeit – nein, diese essenzielle Eigenschaft ihrer gesamten Existenz – ist so mächtig, dass nicht einmal ihr Überlandbus pünktlich kam. Nicht pünktlich kommen konnte. Also saßen Paul und ich an der Haltestelle auf einer Bank in der Herbstsonne, deren Licht leider völlig kraftlos war.
    »Ich kapiere nicht, wie du das machst.« Paul versuchte, einen Kuli dazu zu bringen, auf seinem Handrücken zu schreiben. Es war einer von den Stiften, bei denen man auf das obere Ende drückt, damit die Mine herauskommt, und er klickte sie raus und wieder rein und schüttelte dann den Stift, als würde er deswegen besser schreiben. Er erschuf eine Armee aus Pünktchen auf seinem Handrücken, hatte aber noch keinen Buchstaben zustande gebracht. »Das ist, als würde ich versuchen, das Alphabet mit einem Hotdog aufzuschreiben.«
    Autos donnerten an uns vorbei, doch kein Bus kam. Ohne die Augen von der Straße abzuwenden, streckte ich die Hand nach dem Stift aus. »Ich werde dich erleuchten. Mach dich auf eine umwerfende Erfahrung gefasst.«
    Er gab mir den Kuli und deutete auf meinen Handrücken. »Schreib ›Manlove‹.«
    Ich zögerte, den Kuli schon über meiner Haut. »Na, so was – Paul, ich hatte ja keine Ahnung, dass du so empfindest. Ich meine, ich bin natürlich universell anziehend, aber trotzdem …«
    Pauls Grinsen war so breit, dass ich es aus dem Augenwinkel sehen konnte. »Mann, nein. Bei uns war eine, du weißt schon, wie nennt man die gleich? Eine Gastspielerin. Eine Gast-Oboenlehrerin. Also, sie war diese Woche da – und weißt du, wie sie hieß? Amanda Manlove.«
    Ich gab einen angemessen beeindruckten Laut von mir. »Nicht möglich.«
    »Ja, Mann. Das hab ich auch gesagt. Ich meine, jetzt mal im
Ernst
. Mit diesem Namen musste sie durch die Schulzeit. Ihre Eltern müssen sie echt gehasst haben.«
    Ich schrieb
Herbstfeuer
auf meine Hand.
    Aus tiefstem Hals stieß Paul ein glucksendes Geräusch hervor. »Hey! Wie hast du ihn dazu gekriegt, dass er schreibt? Er hat keine Pünktchen auf deine Hand gemacht. Er hat richtig geschrieben.«
    »Du musst die Haut straff ziehen, du Genie«, entgegnete ich und demonstrierte es ihm. Ich notierte meinen Namen und zog einen Kreis darum.
    Er nahm mir den Stift wieder ab und zog die Haut straff. Dann schrieb er ebenfalls
Herbstfeuer
auf seine Hand. »Warum ›Herbstfeuer‹?«
    Ich wusste es nicht. »Ich will in
Ballade
eine Szene an einem großen Herbstfeuer haben.«
    »Dann müssten wir auf der Bühne ein künstliches Feuer brennen lassen. Das wird sehr schwierig, wenn es nicht billig aussehen soll. Es sei denn, wir benutzen Brennspiritus. Aber sind die Flammen da nicht unsichtbar?« Paul schaute an mir vorbei. »Hey, wer kommt denn da? Das ist das Mädchen von deiner alten Schule.«
    Ich erstarrte und wandte nicht den Kopf, um seine Worte zu überprüfen. »Paul, wehe, du machst Witze. Meinst du, sie hat mich gesehen?«
    Pauls Kinn hob sich, und er betrachtete etwas über meinem Kopf. »Hm, ja, da bin ich ziemlich sicher.«
    »Äh, hallo«, sagte Deirdre direkt neben meiner Schulter. Als ich ihre Stimme hörte, waren sie wieder da, diese Worte:
Ich musste an ihn denken, als du mich geküsst hast.
    Ich warf Paul einen finsteren Blick zu, der
Danke für die rechtzeitige Warnung
ausdrücken sollte, stand auf und wandte mich ihr zu. Wortlos schob ich die Hände in die Taschen.
    »Hallo, Paul.« Dee schaute an mir vorbei Paul an, der ein wenig gequält aussah. »Ich würde gern kurz mit James reden, wenn es dir nichts ausmacht.«
    »Ich warte auf Mom«, sagte ich. Mein Magen zog sich zusammen, ich konnte nicht klar denken. Sie anzusehen tat richtig weh.
    »Ich weiß.« Dee betrachtete die Straße. »Meine Mom hat gesagt, sie hätte ihr Sachen mitgegeben. Sie hat mich angerufen – also, meine Mom, nicht deine – und mir gesagt, dass sie im Radio etwas über einen Stau auf der Vierundsechzig gehört hat. Daher weiß ich, dass sie noch eine Weile brauchen wird. Deine Mom, nicht meine.« Sie zuckte unbehaglich mit den Schultern und stieß hastig hervor: »Ich bin mit dem Kirchenbus in die Stadt gefahren, um dich zu warnen, dass sie sich verspäten wird, für den Fall, dass du hier auf sie wartest.« Alles an ihrem

Weitere Kostenlose Bücher