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Mitternachtskinder

Mitternachtskinder

Titel: Mitternachtskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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eine
Bean Sidhe –
eine Banshee. Eine Einzelgängerin unter den Feen, für die sich niemand starkmachte, die in der Nähe der Menschen lebte und heulte, um sie vor einem bevorstehenden Todesfall zu warnen. Sie war tot, und überall um sie herum zeugten verstreute Blumen von ihrem Todeskampf. Ich hatte noch nie eine tote Banshee gesehen.
    Erst wollte ich danach fragen, wer sie getötet hatte, doch ein rascher Blick in den Kopf der Menschenfrau sagte mir, dass sie es gewesen war. Sie war eine Idiotin wie die meisten Menschen, daher fiel es mir leicht, in ihrem Geist die Erinnerung daran zu finden, wie sie die Banshee durch deren Geheul aufgespürt hatte. Ich sah, wie sie eine Stange, ein Stück Betonstahl, aus ihrer großen Handtasche holte, und dann – nur noch Kampf.
    Eleanor hatte einen Menschen gebeten, einen von uns zu töten?
    »Das kannst du selbst beseitigen«, fuhr ich sie an. »Ich bin keine Made.«
    Sie stupste den schwimmhäutigen Fuß mit der Stiefelspitze an und verzog voller Abscheu die Lippen. »Ich mache das nicht. Kannst du sie nicht einfach …« Sie wedelte mit einer perfekt manikürten Hand in der Luft herum. »… wegzaubern?«
    »Woher soll ich das wissen? Ich musste noch nie eine Feenleiche wegschaffen.«
    Die Frau zuckte bei dem Wort
Fee
zusammen. »Das hat der andere gestern aber nicht gesagt. Er hat behauptet, er würde sich darum kümmern, und als ich wieder hingeschaut habe, war er weg.«
    Argwohn schlich sich in meine Stimme. »Was war weg?«
    »Ein
Bauchan
. Er hatte keine Probleme, den loszuwerden. Er hat einfach nur … so etwas gemacht.« Wieder dieses dämliche Wedeln. Ich hätte ihr gern etwas Hässliches angetan, allein schon für diese dämliche Geste. Doch wenn sie unter Eleanors Schutz stand, würde mich das teuer zu stehen kommen.
    Ein
Bauchan. Bauchans,
die man grob zu den Kobolden zählen konnte, waren ebenfalls Einzelgänger und lebten in engem Kontakt zu den Menschen. Allmählich wurde mir das Ganze unheimlich. Es war eine Sache, alle sechzehn Jahre zu verbrennen – danach kehrte ich auf jeden Fall zurück. Allerdings bezweifelte ich, dass ich je zurückkehren würde, wenn mir jemand eine Eisenstange durch den Hals stieße.
    »Ich kann dir nicht helfen. Ruf jemand anderen.« Ehe sie etwas sagen konnte, rauschte ich halb unsichtbar davon, indem ich mich nach den Gedankenströmen streckte, die ich von den Wohnheimen her spüren konnte.
    »Verdammt noch mal«, hörte ich sie sagen, als bei meinem Verschwinden trockenes Laub um sie herum aufwirbelte. Und dann war ich fort.
     
    Ich floh in die warme, bewegte Dunkelheit des Wohnheims und setzte mich ans Fußende von James’ Bett. Auf der anderen Seite des Zimmers schnarchte das Mondgesicht vor sich hin. Ich hätte weiter weggehen sollen, damit ich nicht die nächste Fee war, falls diese mörderische Frau erneut versuchte, eine Fee zu beschwören. Doch ich wollte nicht allein sein. Die Tatsache, dass mir das bewusst war, ängstigte mich noch mehr als der Wunsch an sich.
    Unsichtbar krabbelte ich neben James ins Bett. Statt die Arme um seine Schultern zu schlingen oder sein Haar zu streicheln, wie ich es getan hätte, wenn ich ihm einen Traum hätte schicken wollen, schmiegte ich mich an seine Brust, als wäre ich ein Menschenmädchen, das er liebte. Als wäre ich Dee, die ihn nicht verdiente, obwohl er so ein gebrochenes, selbstbezogenes Arschloch war.
    Hinter mir erschauerte James, denn sein Körper warnte ihn vor meiner Fremdartigkeit. Dumm, aber ich hätte deswegen schon wieder weinen können. Stattdessen materialisierte ich, weil er weniger zitterte, wenn ich sichtbar war. Sein Bettzeug roch, als hätte er es seit seiner Ankunft nicht gewaschen, aber er selbst roch gut. Solide und echt. Nach dem Leder seines Dudelsacks.
    In den gestohlenen Schutz seines Körpers gekuschelt, schloss ich die Augen, sah aber sogleich den Leichnam der Banshee vor mir. Dann sah ich einen
Bauchan
in einem roten Mantel, der aus dem Wald heraus einen Menschen angrinste. Dann grinste er vom Laub auf dem Boden aus mit toten Augen in den Himmel. Ein Stück Betonstahl ragte aus seinem Hals.
    Hinter mir hatte James einen Alptraum. Er ging durch den Wald, das trockene Laub raschelte unter seinen Füßen. Er trug sein
Looks & Brains-
T-Shirt, das seine Arme frei ließ. Sie waren bis zum Rand der kurzen Ärmel schwarz mit musikalischen Notizen. Eine Gänsehaut verzerrte leicht die Noten. Der Wald war leer, doch er suchte trotzdem nach jemandem. Es

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