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Mitternachtskinder

Mitternachtskinder

Titel: Mitternachtskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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Meter entfernt im Gras, so weit weg, dass James mich nicht spüren konnte, aber nah genug, damit ich die Unterhaltung der beiden verstand. Wie immer brannte James von innen heraus in leuchtendem Gold, und zum ersten Mal seit Monaten spürte ich, dass ich
Hunger
hatte.
    In diesem Augenblick wurde mir klar: Wenn ich vor Halloween keinen Pakt mit einem Menschen schloss, würde es wahrscheinlich sehr schmerzhaft für mich werden.
    Im selben Moment bemerkte ich, dass ich James keines seiner Jahre wegnehmen wollte, selbst wenn er ja gesagt hätte.
    Ich hatte das Gefühl, im Ungewissen zu treiben. Ich wusste nicht mehr, wer ich war.
    »Wartest du auf deinen Bus?«
    Die glatten, moosgrünen Schuhe, die vor mir standen, erkannte ich nicht, aber ich erkannte Eleanors Stimme. Ich blickte auf und sah Eleanor mit ihrem namenlosen menschlichen Gefährten an ihrer Seite. Er beugte sich leicht nach vorn und streckte mir die Hand hin, als wollte er mir aufhelfen, doch Eleanor gab ihm einen leichten Klaps auf die Finger, und er zog die Hand zurück.
    »Ts, ts. Das ist keine gute Idee, mein Lieber. Sie hat Hunger, und wie du weißt, bist du ein Leckerbissen.« Eleanor schaute auf mich herab und bot mir ihre eigene Hand. An jedem ihrer Finger steckte ein Ring, und ein paar davon waren durch lange Goldkettchen miteinander verbunden, die von ihrer Hand herabhingen. Ich blieb sitzen. Eleanor runzelte die Stirn und sah mich mit einem Ausdruck himmlischen, qualvollen Mitleids an. »Erhebst du dich neuerdings nicht mehr vor deiner Königin, Liebes? Oder bist du zu schwach dazu?«
    Ich blickte zu ihr auf. Meine Stimme klang verdrießlich, aber ich bemühte mich nicht, etwas daran zu ändern. »Warum? Werdet Ihr mich ermorden lassen, wenn ich nicht aufstehe?«
    Eleanor schürzte die blassen Lippen. »Ach,
du
bist also diejenige, die sich neulich Nacht geweigert hat, zu helfen. Ich habe dir schon einmal gesagt, dass wir hier gewisse Dinge tun, bei denen wir keinerlei Störung dulden können.«
    Ihr Gefährte musterte mich. Seine Miene drückte auf sehr starre Weise aus:
Steh auf.
Es fiel mir immer noch sehr schwer, seine Gedanken zu lesen, aber ich erkannte, dass er erst kürzlich dem Tod begegnet war und ihn nicht so bald wiedersehen wollte.
    Ich stand auf. »Ich störe keines Eurer Vorhaben.« Jedenfalls
glaubte
ich das. Wissen konnte ich es nicht genau. Ich sah zu James hinüber, und auch Eleanor wandte sich ihm zu. Aus einem Bus ging eine Frau auf ihn zu, die schon in ein paar Metern Entfernung die Arme ausbreitete, um ihn an sich zu drücken. James’ Gesicht strahlte vor echter Freude. Ich hatte ihn wohl noch nie zuvor glücklich gesehen.
    Eleanor begann zu lachen, und sie lachte so laut, dass selbst die Menschen in einiger Entfernung erschauerten, sich umblickten und Bemerkungen über das Gewitter machten, das später aufziehen sollte. Eleanor tupfte sich die Augen – als ob sie weinen könnte! –, schüttelte den Kopf und lächelte mich ungläubig an. »Oh, kleine
Leanan Sidhe,
ist das dein Auserwählter dort?«
    Ihr Lachen gefiel mir nicht, und es gefiel mir nicht, wie sie ihn betrachtete.
    »Welch eine seltsame und doch passende Wahl du getroffen hast. Ich hätte ihn vor ein paar Monaten beinahe getötet, und die
Daoine Sidhe
haben ihn für das Kleeauge wieder ins Leben zurückgeholt. Und jetzt wirst du den Rest erledigen. Das hat etwas – wie ein Kreis, der sich schließt. Nett, nicht wahr?«
    Ich sagte nichts. Mit verschränkten Armen stand ich da und beobachtete, wie James stolz seine Mutter anlächelte, die gerade das Mondgesicht umarmte, als hätte er sowohl die Umarmung an sich als auch seine Mutter selbst erfunden.
    »Oh.« Geziert schlug Eleanor sich die Hand vor den Mund. Sie beugte sich zu ihrem Menschen hinüber, und ihre Freude war kaum zu ertragen.
»Oh.
Hast du das gesehen, mein Lieber?« Ihr Begleiter gab einen zustimmenden Laut von sich. Eleanor wandte sich wieder mir zu. »
Deshalb
also zitterst du vor Begehren, kleine Hure? Weil du es komplett entbehren musstest?«
    Von wegen zittern. Es ging mir gut. Seit Steven war noch nicht so viel Zeit vergangen. »Das geht Euch nichts an.«
    »Mich geht alles etwas an. Alle meine Untertanen liegen mir am Herzen, und ich fände es schrecklich, wenn du etwas entbehren müsstest.«
    »Ach, tatsächlich?«, schnaubte ich.
    »Du brauchst nur darum zu bitten«, entgegnete Eleanor. Sie drehte sich zu James um und lächelte leicht, als wäre sie in Erinnerungen versunken. »Was

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