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Mitternachtskinder

Mitternachtskinder

Titel: Mitternachtskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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Seufzer blickte ich zu Pauls Bett hinüber. Er lag immer noch im tiefsten Koma. Mit Sabber auf dem Kissen und einem Arm, der über die Bettkante hing, sah er aus, als wäre er aus einem Flugzeug in sein Bett abgeworfen worden. Ich beneidete ihn glühend. »Mom, ist dir klar, dass wir Wochenende haben? Und es noch vor zehn Uhr ist? Vor neun sogar?«
    »Es tut mir leid, dass ich dich so früh anrufe«, sagte sie.
    »Tut es nicht.«
    »Du hast recht, es tut mir nicht leid. Ich komme dich besuchen, und ich will, dass du wach bist, damit du mich an der Bushaltestelle abholen kannst.«
    Hastig setzte ich mich auf und sprang dann vor Schreck fast an die Decke. »Heilige Scheiße!« Nuala saß am Fußende, die Knie unters Kinn gezogen, die Arme darumgeschlungen. Ich hatte nicht einmal gespürt, dass sie da war. Sie sah gefährlich und mürrisch und entsetzlich heiß aus.
    »Ich bin sicher, dass du gerade eben nicht laut geflucht hast.«
    Stumm fragte ich Nuala:
Was soll das
? (woraufhin sie nur mit den Schultern zuckte) und sagte dann zu Mom: »Doch, Mom. Ich habe das nur gesagt, um dich zu ärgern.«
    »Du hast also wichtigere Pläne, als deine liebe Mutter zu sehen, die dich schrecklich vermisst?«
    »Nein, mich hat nur etwas gestochen. Ich freue mich sehr darauf, dich zu sehen. Wie immer. Die Nachricht, dass du mich besuchen kommst, versetzt mich förmlich in Ekstase. Es ist, als hätten sich die Schleusen des Himmels geöffnet, und ich strecke die Hand aus und stelle fest, dass da kein Regen herabfällt, sondern Erdbeer-Wackelpudding.«
    »Deine Lieblingssorte«, bemerkte sie. »Mein Bus soll um Viertel nach zehn da sein. Können wir uns an der Haltestelle treffen? Und bring Dee mit. Ich habe Sachen für sie von ihrer Mutter dabei.«
    »Ich versuch’s, aber vielleicht hat sie zu tun. Die Leute haben am Wochenende immer viel vor, weißt du?
Schlafen
und solche Sachen.« Ich warf einen argwöhnischen Blick zu Nuala hinüber. Ihr Gesichtsausdruck war ausgesprochen boshaft. Sie griff unter die Bettdecke und packte meinen großen Zeh. Dann rollte sie ihn zwischen den Fingern herum, als wollte sie ihn abschrauben. Das kitzelte furchtbar und tat ziemlich weh. Ich trat nach ihr und zog dann die Beine unter mich, außerhalb ihrer Reichweite. Stumm sagte ich:
Bösartiges Geschöpf,
und sie wirkte geschmeichelt, dass ich das bemerkt hatte.
    »Jemand mit Terry Monaghans Genen könnte an einem Wochenende nie lange schlafen. Falls die arme Dee beschäftigt ist, dann deshalb, weil sie eine Brücke entwirft oder die Weltherrschaft erringt. Ich muss jetzt Schluss machen, ich will diesen Roman zu Ende lesen, ehe wir ankommen. Zieh dich an. Ich lade euch beide zum Mittagessen ein.«
    »Großartig. Wunderbar. Ganz reizend. Also steige ich nun aus meinem schönen, warmen Bett. Tschüs. Bis nachher.«
    Ich hätte gern behauptet, dass ich anschließend Dee angerufen hätte und wir zusammen losgezogen wären, um meine Mutter zu treffen, und dass zwischen uns alles gut und rosig sei. Aber in der echten Welt – in der Welt, in der James von jedem beschissen wird, der klug genug dazu ist – passierte so etwas natürlich nicht. Ich rief Dee nicht an. Ich machte es nicht einmal wie im Film, wählte die Nummer und klappte ganz schnell das Handy zu, ehe sie rangehen konnte.
    Stattdessen starrte ich nach dem Gespräch mit meiner Mutter auf das eingeprägte Zeichen auf der Rückseite meines Handys, bis ich zu dem Schluss kam, dass das kein bedeutungsloser Designschnörkel war, sondern ein satanistisches Symbol, das den Empfang verbessern sollte. Ich hatte einen Kuli auf dem Schreibtisch neben meinem Bett liegen, griff danach und schrieb mir
10 : 15
auf die Hand. Viele der anderen Wörter waren gestern Abend beim Duschen abgewaschen worden. Beim Anblick halbfertiger Wörter wurde mir übel. Ich vervollständigte die, die ich noch lesen konnte, und rieb mit Spucke die unleserlichen Reste ab, die nicht mehr zu retten waren. Als ich wieder zum Fußende des Bettes schaute, war Nuala verschwunden. Typisch. Wenn ich sie in der Nähe haben wollte, war sie weg.
    Ich klappte das Handy mehrmals auf und zu und ließ es richtig schnappen, um mein Hirn wieder in Gang zu setzen. Ich fühlte mich nicht etwa mies, weil ich Dee nicht anrief – vermutlich würde sie sowieso nicht rangehen, wenn sie meine Nummer sah. Nein, ich hatte so ein nagendes Gefühl in der Bauchgegend oder im Kopf, als wäre ich hungrig, obwohl das nicht stimmte.
    »Wach auf, Paul.« Mit den

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