Mitternachtskinder
Gesicht und ihrer Stimme wirkte verlegen, versöhnlich, kläglich.
Paul bot schließlich an: »Ich warte hier.«
»Danke, Genosse.« Nur ganz wenig Sarkasmus schlich sich in meine Stimme. Er konnte meiner Mutter dann meine Asche übergeben, nachdem Dee verbrannt hatte, was von meinem Selbstwertgefühl noch übrig war. Den Bruchteil einer Sekunde lang überlegte ich, ob ich nein zu ihr sagen könnte. »Okay, gehen wir.«
Paul schnitt mir eine kleine, bedauernde Grimasse, ehe ich Dee den Gehsteig entlang folgte. Sie schwieg, während wir die Bushaltestelle hinter uns ließen und über den ansteigenden Weg ins Zentrum von Gallon liefen. Eine Querstraße weiter sah ich den Evans-Brown-Musikladen. Ich fragte mich, ob Bill, der Sackpfeifenlehrer, noch dort war oder ob er verschwand, wenn ich ihn nicht sehen konnte, wie Nuala. Im Vorbeigehen schaute ich in die leeren Fenster aufgegebener Läden und sah zu, wie unsere Spiegelbilder sich ausdehnten und wieder zusammenzogen. Dee hatte die Arme vor der Brust verschränkt und biss sich auf die Lippe. Ich bildete mit den Händen in den Taschen und hochgezogenen Schultern eine Insel, die sie nur mit einem Boot hätte erreichen können – und sie hatte keines.
»Ich fühle mich schrecklich«, sagte Dee endlich. Diesen Satz fand ich irgendwie unfair. Selbstsüchtig. Dee dachte offenbar dasselbe, denn sie fügte hinzu: »Wegen dem, was ich dir angetan habe. Ich bin … Ich muss jede Nacht heulen, wenn ich daran denke, wie ich alles zwischen uns verdorben habe.«
Darauf erwiderte ich nichts. Wir gingen an einem Geschäft für Herrenmode vorbei. Im Fenster stand eine Reihe Köpfe von Schaufensterpuppen mit Hüten. Mein Spiegelbild setzte für einen Augenblick eine Melone auf.
»Es war bloß … Ich weiß gar nicht, warum … Ich meine, es tut mir nur einfach furchtbar leid. Ich will nicht, dass zwischen uns alles vorbei ist. Ich weiß, dass ich Mist gebaut habe. Ich bin nur irgendwie, ich weiß auch nicht, gebrochen. Mit mir stimmt irgendwas nicht, und ich weiß, dass ich Mist gebaut habe.« Sie weinte noch nicht, aber ihre Stimme zitterte ein wenig, als sie »gebrochen« sagte. Ich betrachtete die Risse im Asphalt des Gehsteigs. Ameisen marschierten in geraden Reihen darüber hinweg. Bedeutete das nicht, dass es regnen würde oder so? Meine Mutter, glaube ich, hatte mir mal erzählt, dass Ameisen hintereinanderliefen, um Duftspuren zu legen, damit sie den Rückweg fanden. Je dichter sie aufrückten, umso stärker wurde die Duftspur. Umso leichter fanden sie wieder nach Hause.
Dee packte mich an der Hand, blieb plötzlich stehen und riss mich dadurch herum. »James, bitte sag etwas. Bitte. Das hier … das hier ist mir wirklich schwergefallen. Bitte sag einfach
irgendwas
.«
In meinem Kopf wirbelten die Worte durcheinander, aber es waren keine zum Aussprechen dabei. Es waren finstere Lettern – Hunderte Buchstaben bildeten Wörter, die aufgeschrieben werden mussten. Da stand ich also mitten auf dem Gehsteig. Dee hielt meine Hand so fest, dass es weh tat, und sah mich mit schimmernden Augen an, den Tränen nahe. Da stand ich, den Kopf vollgestopft mit Worten, und brachte keines davon heraus.
Ich musste aber. Als ich schließlich etwas sagte, überraschte es mich, wie ruhig meine Stimme klang und dass ich in zusammenhängenden Sätzen sprach. Es war, als wäre ein allwissender, neutraler Erzähler in meinen Körper eingedrungen und machte nun eine Durchsage zur öffentlichen Sicherheit. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Dee. Ich weiß nicht, was du von mir willst.«
Dann, in einem Schwall, waren die Worte da, die ich sagen wollte, und sie explodierten beinahe in meinem Kopf, so sehr wünschte ich mir, sie auszusprechen:
… aber du hast mir weh getan. Es tut so furchtbar weh. Hier mit dir zu stehen und deine Hand zu halten bringt mich um. Benutzt du mich nur? Wie kannst du mir das antun? Bedeute ich dir nicht mehr als das? Ich bin nur ein verdammter Platzhalter, oder?
Ich behielt sie für mich.
Aber Dee starrte mich an, als hätte ich sie doch gesagt. Ihre Augen waren so groß, dass ich ernsthaft überlegen musste, ob ich nicht doch laut gesprochen hatte. Sie wandte den Blick ab, betrachtete den leeren Gehsteig und dann ihre Füße, als würde der Anblick ihrer Doc Martens ihr Mut verleihen. »Ich wollte dir das nicht erzählen. Dass ich ihn so gernhatte. Luke.«
»Du hattest ihn gern«, wiederholte ich. Ich hörte den matten, ungläubigen Tonfall meiner eigenen
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