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Mitternachtskinder

Mitternachtskinder

Titel: Mitternachtskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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fuhr ich fort. »Ophelia kommt langsam damit klar, dass Hamlet ihr das Herz gebrochen hat und nur noch mit ihr befreundet sein will. Aber auch Leute, die nur gute Freunde sind,
belügen einander nicht

    Georgia schnitt eine Grimasse und öffnete den Mund, aber Paul legte den Zeigefinger an die Lippen und beobachtete Dee.
    Dees Stimme klang sehr leise, und das war auch nicht mehr ihre Schulstimme. Ich meine, jeder Mensch hat zwei Stimmen – eine, die er in der Öffentlichkeit benutzt, und eine, die
nur für dich
ist. Die Stimme, mit der er spricht, wenn man mit ihm allein ist und niemand sonst ihn hören kann. Sie sprach mit dieser Stimme, der Stimme vom letzten Sommer, als ich noch geglaubt hatte, es würde Sommer um Sommer unverändert so weitergehen. »Hamlet könnte es nicht mit ansehen, wenn Ophelia noch einmal so verletzt würde.«
    Sie sah mich an. Aber sie schaute mir nicht in die Augen, sondern betrachtete die Narbe über meinem Ohr.
    »Oh«, sagte ich.
    Aus irgendeinem Grund wurde mir erst in diesem Moment klar – als Dee meine Narbe ansah und diese alte Stimme benutzte –, dass sie mich auch liebhatte. Sie hatte mich schon die ganze Zeit über geliebt, nur nicht auf die Art, wie ich es mir wünschte.
    Scheiße.
    Der Herbstwind, der durch die hohen Fenster kam, brachte seltsam unpassende Düfte mit sich: Thymian und Klee und diesen feuchten Geruch, der aufsteigt, wenn man einen großen Stein umdreht. Ich saß viel zu lange irgendwie da und sagte nichts.
    »James und Paul, würden Sie bitte kurz zu mir nach vorne kommen?«, wies Linnet uns mit unheilverkündender Miene an. Sie sah viel lehrerhafter aus als Sullivan, weil sie am Lehrerpult saß statt darauf. Ich nahm mir vor, mich nie hinter einen Schreibtisch zu setzen. »Deirdre und Georgia, Sie können mit der Diskussion allein fortfahren.«
    Ich stand auf, doch ehe ich mit Paul nach vorn ging, berührte ich Dees Handrücken. Ich weiß nicht, ob sie wusste, was das heißen sollte, aber ich wollte ihr sagen, dass – ich weiß nicht, was ich ihr damit zu verstehen geben wollte. Irgendwie wollte ich ihr wohl zeigen, dass ich es endlich kapiert hatte. Ihr Gesicht bekam ich nicht mehr zu sehen, nachdem ich ihre Hand berührt hatte, doch ich bemerkte, wie Georgia mir und Paul mit gerunzelten Brauen hinterherschaute.
    Ganz vorn im Unterrichtsraum blieben Paul und ich vor Linnets Pult stehen, als warteten wir darauf, gleich zum Ritter geschlagen zu werden. Na ja, ich stand jedenfalls so da. Paul zappelte unruhig. Ich vermutete, dass er noch nie richtig Ärger bekommen hatte.
    »Sie sind Freunde?«, fragte Linnet. Sie sah aus wie ein Vögelchen hinter dem großen Tisch, das Haar wirkte wie gesträubte blonde Federn. Mit dunklen, argwöhnisch dreinblickenden Augen blinzelte sie zu uns auf.
    Gerade wollte ich ihr erläutern, dass wir praktisch Blutsbrüder seien, als Paul antwortete: »Und Zimmergenossen.«
    »Tja.« Linnet legte unsere Entwürfe nebeneinander vor sich hin. »Dann verstehe ich das nicht. Hat hier einer den anderen abschreiben lassen, oder ist das ein Plagiat? Oder soll das ein überhaupt nicht witziger Scherz sein? Es ist nicht meine Aufgabe, Mr.Sullivans Hausaufgaben zu benoten, aber ich konnte unmöglich übersehen, dass Ihre Entwürfe für den Aufsatz identisch sind.«
    Paul sah mich an. Ich sah Linnet an. »Weder noch. Haben Sie sie nicht gelesen?«
    Linnet wedelte mit einer Hand. »Für mich war das nur wirres Zeug.« Sie zog die Titelseite meiner Arbeit näher heran und las laut vor:
    »Ballade:
    Schauspiel in drei Akten,
    das sich stark auf die Metapher stützt
    und nur für jene Bedeutung besitzt,
    die die Welt so sehen, wie sie wirklich ist.«
    Sie betrachtete uns und zog eine Braue hoch. »Ich wüsste nicht, was das mit der Aufgabenstellung zu tun hat – sollten Sie nicht einen zehnseitigen Aufsatz über die Metapher schreiben? Und diese kryptische Zusammenfassung erklärt immer noch nicht, warum sie im Wortlaut mit Pauls Hausaufgabe vollkommen übereinstimmt.«
    »Sul… Mr.Sullivan wird es verstehen.« Am liebsten hätte ich ihr die beiden Blätter weggenommen, ehe sie mit dem Rotstift, der nur Zentimeter von ihren Fingern entfernt lag, etwas daraufschreiben konnte. »Das ist ein Gruppenprojekt, und das Stück ist unser Aufsatz. Wir schreiben und spielen es gemeinsam.«
    »Nur Sie beide? Soll das eine Art Sketch werden?«
    Ich wusste wirklich nicht, warum ich ihr das erklären sollte, da sie unsere Arbeit schließlich nicht

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