Mitternachtskinder
was zum Teufel da los war, und sie sich deshalb umgebracht hat.«
Dee blinzelte.
Georgia starrte.
Paul begann zu lachen.
Linnet, die noch ganz vorn stand, schaute misstrauisch herüber. Zugegeben, am Beginn einer Diskussion über ein Stück, in dem praktisch jeder schon von Anfang an tot ist oder etwas später stirbt, erregt hysterisches Gelächter durchaus Aufmerksamkeit.
»Sie sollen diskutieren, nicht schwätzen«, sagte Linnet und funkelte uns böse an. Sie steuerte unheilverkündend auf uns zu wie eine Qualle. Dabei versuchte sie vergeblich, nicht auf meine Hände zu starren.
»Wir diskutieren doch.« Ich sah Dee wieder an, deren Blick zwischen mir und Linnet hin und her schoss. »Wir haben gerade über den Mangel an Kommunikation zwischen Hamlet und Ophelia gesprochen, über dessen Parallelen in der Realität. Und darüber, wie saudumm es von Hamlet war, Ophelia über seine wahren Gedanken im Unklaren zu lassen.«
Sullivan hätte meine Stegreifanalyse des Materials zu schätzen gewusst – hey, zumindest hatte ich alles gelesen, oder? –, doch Linnet starrte mich stirnrunzelnd an. »Es wäre mir lieb, wenn Sie in meinem Unterricht auf solche Ausdrücke verzichten würden.«
Ich wandte mich ihr zu und ließ meine Stimme so aufrichtig wie möglich klingen. »Ich werde mir Mühe geben, meine Beiträge jugendfrei zu gestalten.«
»Tun Sie das. Mr.Sullivan erlaubt so etwas in seinem Unterricht sicher auch nicht.« Ihr letzter Satz hatte ein deutlich hörbares Fragezeichen am Ende, als sei sie nicht ganz sicher.
Ich lächelte sie an.
Linnet legte die Stirn in noch tiefere Falten und trieb quallenartig zur nächsten Diskussionsgruppe weiter.
Georgia musterte mich finster, tippte mit dem Bleistift auf ihren Block und sagte: »Ich glaube, ich identifiziere mich am meisten mit Horatio, weil er …«
»Vielleicht ist Hamlet klar, dass Ophelia es nicht kapieren würde«, unterbrach Dee sie, und Georgia verdrehte genervt die Augen. »Ophelia würde Hamlet doch gleich für dumm erklären, ohne den Zusammenhang zu kennen.«
»Du gehst davon aus, dass Ophelia keine Ahnung davon hat, was Hamlet durchgemacht hat«, sagte ich. »Aber Ophelia war beim ersten Mal
dabei,
schon vergessen? Sie weiß, was für hinterhältige Freaks Gertrude und Claudius sind. Sie ist nicht neu in Dänemark, Dee.«
»Hallo, wovon reden wir hier überhaupt?«, fragte Georgia. »Ophelia weiß nichts von Gertrude und Claudius. Hamlet weiß nur, dass Claudius seinen Vater ermordet hat, weil dessen Geist es behauptet hat, und Hamlet ist der Einzige, mit dem der Geist gesprochen hat. Also weiß Ophelia gar nichts.«
Ich winkte ab und sagte zu Dee: »Ophelia hat nur deshalb keine Ahnung, weil Hamlet sich ihr nicht anvertraut. Anscheinend traut er ihr nicht und glaubt, er könnte alles allein schaffen, was beim ersten Mal nicht gestimmt hat und was diesmal definitiv auch nicht stimmt. Er hätte Ophelia erlauben sollen, ihm zu helfen.«
Dees Augen strahlten ein bisschen zu sehr. Als sie blinzelte, verschwand der feuchte Schimmer. »Ophelia war keine gute Menschenkennerin. Sie hätte sich einfach von Hamlet fernhalten sollen, wie Polonius ihr geraten hat. Die Leute sind nur verletzt worden, wenn sie Hamlet zu nahe waren.
Alle
sind seinetwegen gestorben. Es war richtig von ihm, Ophelia zu vergraulen.«
Georgia begann wieder zu reden, aber ich beugte mich über meinen Tisch. »Aber Ophelia hat Hamlet geliebt«, entgegnete ich zwischen zusammengebissenen Zähnen.
Dee starrte mich an, und ich starrte zurück. Ich war ein bisschen geschockt, dass ich es tatsächlich ausgesprochen hatte. Dann ruinierte Paul die Stimmung, indem er meinte: »Jetzt kapiere ich es. Die ganze Sache mit dem umgekehrten Geschlecht hat mich durcheinandergebracht. Sullivan muss Polonius sein. Er hat auch so ein Vaterrollending laufen, wie Polonius bei Ophelia.«
»Gott des Offensichtlichen, wir danken dir«, erwiderte ich und ließ mich auf meinem Stuhl zurückfallen.
Georgia wies auf die Tafel. »Will jetzt jemand über die zweite Frage sprechen?«
Niemand wollte über die zweite Frage sprechen.
Ich verschränkte die Arme vor der Brust. Jetzt empfand ich eine Art herrlicher Distanz zu der Situation, eine Objektivität, die mir immer zu fehlen schien, wenn Dee in der Nähe war. Allmählich kam ich von ihr los. Ich konnte tatsächlich über sie hinwegkommen. »Ich finde eben, Hamlet sollte Ophelias Anrufe gar nicht erst annehmen, wenn er sie dann doch nur anlügt«,
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