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Mitternachtskinder

Mitternachtskinder

Titel: Mitternachtskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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während ich versuchte, mir eine sinnvolle Erwiderung für Dee einfallen zu lassen. Ihre Augen waren so groß und ihr Gesicht so hübsch wie immer, aber mir fehlte etwas von diesem nagenden Drang, witzig zu sein und mich angenommen zu fühlen – den spürte ich sonst immer, wenn ich in ihrer Nähe war.
    Ich dachte:
Vielleicht kann ich doch über sie hinwegkommen. Vielleicht muss es nicht ewig weh tun.
    »Ehe wir anfangen, brauche ich von Ihnen allen die Gliederung Ihrer Hausarbeiten«, rief Linnet vorne und ersparte es mir damit, die zweitlahmste Bemerkung meines Lebens machen zu müssen. Linnet wirkte von meinem Platz in der Loser-Spinner-Scheißegal-Reihe aus sogar noch kleiner und zerbrechlicher. »Ich sammle auch die Hausaufgaben für Mr.Sullivan ein. Soweit ich weiß, sollten Sie heute auch bei ihm Ihre Entwürfe abgeben.« Von Sullivan war da vorn immer noch nichts zu sehen – normalerweise hätte er längst auf der Schreibtischkante sitzen müssen.
    Neben mir schlug Dee ihre Mappe auf, um ihre Gliederung herauszuholen, und dabei sah ich das Blatt Papier darunter. Irgendeine Klausur. Mit einer fetten roten 42 in einem roten Kreis oben rechts. Daneben stand noch
ungenügend,
nur falls ihr nicht klar sein sollte, dass man mit 42 Punkten durchgefallen war.
    Die Einserschülerin aus der ersten Reihe, die wunderschöne und verlorene Dee, blickte zu mir herüber, als wüsste sie instinktiv, dass ich die Klausur gesehen und sofort begriffen hatte, was diese Sechs für sie bedeutete. Einen Moment lang waren ihre Augen weit aufgerissen, der Blick verängstigt und flehend, und ich starrte sie nur an und versuchte gar nicht erst, nicht schockiert dreinzuschauen. Sehr vorsichtig legte Dee die Hand auf die Klausur, damit die Brise das Blatt nicht erfasste. Ihre Finger verdeckten die Note.
    Aber das änderte nichts daran, wie
falsch
das alles war.
    »Letzte Reihe! Nach vorn durchgeben,
bitte
«, sagte Linnet mit unfreundlicher Stimme, die ein wenig zu hart klang.
    Wir fuhren zusammen. Dee reichte ihre Hausaufgabe an den Tisch vor ihr weiter, und Paul und ich schickten unsere identischen Entwürfe für
Ballade
auf den Weg nach vorn. Ich legte die gefalteten Hände auf die Tischplatte und sah dabei Pauls schräge Handschrift, die sich deutlich von meinen eckigen, geraden Buchstaben abhob. Er hatte genug Platz gefunden, um die Worte
Frauen = Hirnschmerzen
auf meine linke Hand zu schreiben. Mit hochgezogener Braue schaute ich ihn an, und er warf mir einen Blick zu, als wollte er sagen:
Ist doch so, oder?
    Eine Sechs. Verdammt. Ich war ziemlich sicher, dass Dee noch nie etwas Schlechteres als eine Zwei plus geschrieben hatte, und an dieses eine Mal erinnerte ich mich genau, weil sie mich deswegen angerufen hatte. Sie war von Geburt an auf technische Perfektion programmiert – eine solche Note musste Kurzschlüsse und Fehlfunktionen in ihrem gesamten System auslösen.
    Ich konnte an nichts anderes mehr denken.
    »Schieben Sie bitte die Tische zu Vierergruppen zusammen«, wies Linnet uns von vorn an. »Beide Kurse haben gerade
Hamlet
gelesen und die Verfilmung gesehen, und ich möchte, dass Sie in Kleingruppen darüber diskutieren. Ich werde Sie beobachten und auch Mr.Sullivan berichten, wie aktiv Sie sich an der Gruppendiskussion beteiligt haben, wenn er heute Nachmittag zurückkommt.« Sie redete über die Fragen an der Tafel, über die wir sprechen sollten, und erzählte uns, dass sie währenddessen unsere Gliederungen lesen würde und
bla, bla, bla, mach endlich Schluss
. Wir fingen einfach an, unsere Tische zusammenzurücken, und übertönten ihr Gelaber mit dem Lärm metallener Tischbeine, die über den Boden kratzten.
    Es bildete sich ein Kreis aus Paul, mir und Dee aus der letzten Reihe und einer Schülerin aus der dritten Reihe, die wenig erfreut wirkte, in eine Gruppe mit über fünfzig Prozent »Letzte Reihe« assimiliert zu werden.
    Die wenig erfreute Schülerin hieß Georgia (und spielte Trompete – ich bemühte mich, ihr das nicht von vornherein übelzunehmen) und beschloss, die Führung zu übernehmen, indem sie die erste Frage von der Tafel vorlas. »Okay. Erste Frage. Mit welcher Figur aus
Hamlet
identifizierst du dich am meisten?«
    Ich betrachtete Dee ganz intensiv – mit so einem Blick, der die Leute nicht nur an Ort und Stelle festhält, sondern außerdem Löcher in sie hineinbrennt, durch die man ohne weiteres einen Bleistift stecken könnte – und sagte: »Ophelia, weil ihr niemand gesagt hat,

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