Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mitternachtskinder

Mitternachtskinder

Titel: Mitternachtskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
Vom Netzwerk:
entlang wie eine Amazone in engen Jeans mit Schlag. Scheinbar ließ es sie vollkommen kalt, dass alle sie anstarrten. Sie kletterte auf die Bühne, ging schnurstracks auf mich zu und riss mir das Textheft aus der Hand. Ihr langärmeliges gelbes Shirt ließ einen verlockenden Streifen Bauch unter dem Saum hervorblitzen. Über die Ärmel verlief ein Schriftzug nach unten:
inyourhandsinyourhandsinyourhands.
    Ich bemühte mich, keine Miene zu verziehen, aber aus irgendeinem Grund drohte ich ständig in Lächeln auszubrechen. Also schaute ich auf das Skript in Nualas Händen hinab, als läse ich mit ihr gemeinsam, und sagte: »Leute, das ist Nuala.«
    Nuala blickte sie nicht an. »Hallo«, sagte sie. »Ich bin hier, damit ihr nicht beschissen spielt. Hat jemand ein Problem damit?«
    »Kein Problem«, flüsterte Paul.
    Megan funkelte Nuala an. Vermutlich war sie eifersüchtig. Tja, damit würde sie wohl allein fertig werden müssen. Ich fühlte mich gleich besser, seit Nuala neben mir stand.
    »Okay, geht die erste Szene einmal ganz durch, damit ich mir das anschauen kann«, forderte Nuala uns auf. Ich rechnete damit, dass jemand ihre Autorität in Zweifel ziehen würde, doch das tat niemand. In Wahrheit waren wir wohl alle heilfroh, jemanden zu sehen, der anscheinend wusste, was er tat, oder sich zumindest so verhielt – da kümmerte es keinen von uns, wer das eigentlich war. Sie sah mich mit einer verwegen hochgezogenen Braue an, als wollte sie mein Einverständnis, dass sie die Führung übernahm.
    Als wärst du jemals auf die Idee gekommen, mich um Erlaubnis zu fragen,
dachte ich, und sie lächelte dreist. Leicht berührte sie meinen Handrücken – ein Stückchen unbeschriftete Haut – und gab mir das Textheft zurück. Dieses dumme Lächeln wollte sich schon wieder auf mein Gesicht schleichen. Ich sog die Unterlippe ein und starrte auf das Skript, bis ich es unter Kontrolle hatte. »Alle bereit für einen neuen Anlauf?«
    Nuala hockte sich an den Rand der Bühne wie ein Raubtier vor dem Angriff, und wir gingen die erste Szene durch. Wir kamen uns noch idiotischer vor, weil Nuala uns jetzt zuschaute, und schafften etwa die Hälfte, ehe sie abbrach.
    »Wow«, sagte sie und nahm mir das Heft wieder ab. »Ihr seid wirklich beschissen, Leute.«
    »Und du bist bitte wer?«, entgegnete Megan.
    Nuala hob die Hand, als wollte sie sagen:
Halt die Klappe,
und schaute stirnrunzelnd ins Skript. »Okay, zuallererst, James, bist du als Leon eine totale Fehlbesetzung. Mond … Paul sollte Leon spielen. Warum lässt du ihn Campbell spielen? Campbell ist ein unverstandenes, größenwahnsinniges Musiker-Wunderkind. Es ist doch klar, dass du ihn spielen müsstest.«
    Die anderen lachten.
    »Ist das so offensichtlich?«, fragte ich.
    »Oh, bitte«, stöhnte Nuala und wedelte mit dem Text. »Das hier ist so subtil wie die Beulenpest. Campbell, das brillante, unverstandene, magische Genie, und sein treuer Freund Leon, in Stücke gerissen von einer schafherdenartigen Gesellschaft, die wahre Magie fürchtet? Nein, wer könnte damit nur gemeint sein? Aber das macht einen Teil seines Charmes aus.« Sie deutete auf Megan, die das Gesicht verzog, als würde Nuala gleich Laserstrahlen aus den Fingerspitzen abfeuern. »Dir dürfte es leichter fallen, deinen Text an Paul-Leon zu richten statt an James-Leon. Denn sich James als Leon vorzustellen … haha.« Anscheinend war die Vorstellung so absurd, dass ihr nicht einmal ein spitzzüngiger Vergleich einfiel. »Versuch es mal. Und
sei
Anna. Hast du das Stück nicht gelesen? Weißt du nicht mehr, was mit ihr passiert?«
    »Tja, nichts, jedenfalls im Vergleich zu Leon und Campbell.« Megan rümpfte die Nase.
    »Das liegt daran, dass du es nicht richtig liest.« Nuala blätterte im Skript, wobei sie darauf achtete, die Blätter nicht zu zerknittern – Gott, ich fing tatsächlich an, sie zu lieben –, und deutete auf eine Seite. »Siehst du das hier? Glaubenskrise. Du musst jeden einzelnen dieser Sätze auf
genau diesen
Teil hin aufbauen. Wenn du an diese Stelle kommst, müssen die Zuschauer nach Luft schnappen und das Gefühl haben, der Teppich würde ihnen unter den Füßen weggezogen, genau wie Anna.«
    Megan wühlte sich durch ihr Skript bis zu dieser Stelle. »So hatte ich das noch gar nicht gesehen.«
    Nuala zuckte mit den Schultern, als wollte sie sagen:
Nein, du natürlich nicht,
und sah mich an. »Also, du spielst Pauls Rolle jetzt von Anfang an.
Du
sprichst als Campbell zum Publikum.

Weitere Kostenlose Bücher