Mitternachtslust
gewandt. Beide bewegten stumm den Kopf auf und ab.
Erst als Nataschas heller schmaler Rücken inmitten der übrigen Gäste im Haus verschwand, fiel Melissa ein, dass es vielleicht falsch war, sie allein zu lassen. Champagner und Wein waren in Strömen geflossen, und sie hatte schon das eine oder andere enthemmte Gelächter vernommen. In dieser Stimmung konnte es leicht passieren, dass einer der angetrunkenen Männer Natascha bloßstellte.
Trotzdem konnte sie jetzt nicht einfach ins Haus zurückgehen. Sie musste mit Alexander reden, auch wenn es nur kurz war.
Gemeinsam schwiegen sie im Schatten des hohen Baumes, bis sie allein waren. Dann knöpfte Alexander langsam seine Jacke auf.
»Was machst du da?«, rief Melissa entsetzt.
Wortlos ließ er die Jacke von seinen Schultern gleiten und legte sie ihr um. Verlegen raffte sie das Kleidungsstück vorn zusammen, um die Wärme seines Körpers darin festzuhalten. Dennoch überlief sie ein Schauer, als sie den Duft nach Mann und teuerer Seife einatmete, der aus dem Kragen direkt in ihre Nase stieg.
Was ist eigentlich mit mir los? Noch vor einer halben Stunde habe ich mit einem Geist herumgemacht, und jetzt würde ich am liebsten diesem Mann auf der Stelle die Klamotten vom Leib reißen. Und dabei traue ich ihm keine zwei Schritte über den Weg und weiß nicht, was ich von ihm halten soll.
»Wenn du keinen Hausschlüssel hast, wie bist du dann an das Kostüm gekommen?«, erkundigte sie sich im strengen Ton einer Staranwältin.
»Ehrlich gesagt, habe ich die Sachen schon ziemlich lange und trug sie einmal zu einem Faschingsball. Ich kenne den Hausbesitzer ganz gut.«
»Kannst du beweisen, dass der Eigentümer dir erlaubt hat, Sachen aus dem Haus zu nehmen?«, fuhr Melissa mit ihrem Verhör fort.
»Kannst du beweisen, dass er dir erlaubt hat, dieses Kleid zu tragen?« In seinen Augen tanzten spöttische Irrlichter.
»Ich bin immerhin die rechtmäßige Mieterin des Hauses.« Hoheitsvoll reckte sie ihr Kinn vor.
»Ich bin immerhin der rechtmäßige …« Alexander stockte mitten im Satz und beugte sich vor, um ihr einen kurzen, aber intensiven Kuss auf die Lippen zu drücken.
»Ich lasse das Kostüm reinigen, und du bekommst es in ein paar Tagen zurück«, versprach er. »Dann kannst du es wieder in die Abstellkammer bringen.«
Melissa schwieg und kam sich plötzlich albern vor, denn natürlich gehörte ihr die Piratenuniform genauso wenig wie ihm.
Seite an Seite schritten sie langsam zur Haustür.
»Hast du heute Abend jemanden gesehen, der das gleiche Kostüm trägt wie du?«, setzte Melissa nach kurzer Zeit die Unterhaltung fort.
»Das ist ein Einzelstück. Früher ließ man solche Kostüme für Maskenbälle extra anfertigen.«
Melissa ging ein wenig langsamer, weil sie die Stufen zur Haustür schon fast erreicht hatten.
»Ich frage nur, weil …« Sie konnte ihm unmöglich erzählen, was in der Küche geschehen war. Es drängte sie zwar, mit ihm über die Sache zu reden, aber erstens war es ihr peinlich, was sie einem anderen Mann erlaubt hatte – wenn sie auch geglaubt hatte, er wäre es –, und zweitens hatte sie Angst, er würde sie für verrückt halten, wenn sie ihm immer wieder von Geistererscheinungen erzählte.
Rasch lief sie die Stufen zur Haustür hoch, schlüpfte durch die angelehnte Tür und ging weiter, ohne sich darum zu kümmern, ob Alexander ihr folgte.
Die Musiker spielten mit ernsten Mienen einen munteren Foxtrott, und einige Paare drehten sich müde auf der Tanzfläche. Unter ihnen befanden sich Susanne und Jochen, die weniger tanzten, als eng umschlungen von einem Fuß auf den anderen traten und einander dabei auf eine Weise in die Augen starrten, als wären sie dicht davor, sich gegenseitig die Kleider vom Leib zu reißen.
Melissa blieb am Rand der Tanzfläche stehen und fixierte ihre Freundin mit aller Kraft.
Tatsächlich wandte Susanne plötzlich den Kopf und sah zu ihr herüber. Und obwohl es ihr sichtlich schwerfiel, sich aus Jochens Umarmung zu lösen, flüsterte sie ihm etwas zu, drückte ihm einen Kuss auf die Schläfe und schlängelte sich an einem lustlos vor sich hin wippenden älteren Paar und einer im Wege stehenden Kübelpflanze vorbei, bis sie schließlich mit glücklich leuchtenden Augen vor Melissa stand.
»Wo warst du denn nur die ganze Zeit?«, wollte sie wissen. »Ich hätte mich so gern mal für eine halbe Stunde mit dir hinter einer von diesen gigantischen Palmen versteckt und über alte und neue Zeiten
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