Mitternachtslust
geredet. Jetzt ist der Abend fast vorbei. Es wird Zeit fürs Bett.«
Als Melissa erstaunt die Augen aufriss, weil Susanne früher auf jeder Party zu den letzten Gästen gehört hatte, die nach Hause gingen, fügte sie grinsend hinzu: »Wenn Jochen und ich nicht mindestens alle zwölf Stunden miteinander schlafen, leiden wir unter Entzugserscheinungen. Es ist einfach hoffnungslos mit uns und wunderschön.«
Für einen kurzen Moment spürte Melissa so etwas wie Neid. Bisher hatte Susanne ihr immer das Gefühl vermittelt, dass sie als beste Freundin eine der wichtigsten Personen in ihrem Leben war. Und nun fand sie kaum die Zeit, ein paar Worte mit ihr zu wechseln, weil es sie schon wieder mit ihrem neuen Freund ins Bett zog.
»Ich hätte auch gern mit dir geredet«, seufzte sie.
»Weißt du was? Jochen und ich sind morgen Vormittag noch in Hamburg. Warum treffen wir uns nicht irgendwo zum Mittagessen? Dann können wir uns in Ruhe unterhalten.« Susanne sah sich unruhig nach ihrem Jochen um. Offensichtlich wurde ihr sexueller Notstand von Minute zu Minute größer.
»Gut. Lass uns morgen früh telefonieren!« Natürlich konnte sie keinesfalls in einem gut besuchten Restaurant, noch dazu mit Jochen am Tisch, ihre ganz persönliche Gespenstergeschichte erzählen. Aber es würde trotzdem schön sein, wenigstens ein paar Sätze mit ihrer Freundin zu wechseln.
Susanne hatte sich schon in die Richtung gewandt, in die Jochen verschwunden war, drehte sich aber wieder um. »Ich habe beobachtet, wie wütend Richard dich angesehen hat, bloß weil du irgendetwas gesagt hast, das ihm nicht passte. Geld kann doch nicht der Grund sein, noch ewig mit ihm zusammenzubleiben. Bitte! Du kannst jederzeit zu mir kommen.«
»Ich werde nicht mehr lange mit ihm leben, das verspreche ich dir«, entgegnete Melissa leise.
»Das mit dem Fotostudio schaffst du auch so!« Susanne strich ihr mit den Fingerspitzen über die Schulter. »Ich habe ziemlich viel Geld in Aktien angelegt, die überhaupt nichts einbringen. Also werde ich die blöden Dinger verkaufen und dir das Geld leihen. Das ist wahrscheinlich eine wesentlich bessere Geldanlage.«
Melissa spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Jochen hin oder her – Susanne war immer noch eine wunderbare Freundin.
»Du bist wirklich lieb«, stieß sie hervor und bemühte sich, ihre Stimme nicht in Rührung ertrinken zu lassen, während sie sich unauffällig mit dem Zeigefinger über die Augenwinkel wischte.
Ehe sie sichs versahen, lagen die Freundinnen einander in den Armen und zerdrückten sich gegenseitig die Ballkleider.
»Du schaffst das!«, flüsterte Susanne in Melissas Ohr.
Diese blickte über die Schulter ihrer Freundin zur Treppe und sah ihn auf der untersten Treppenstufe stehen. Er schaute sie unverwandt an. Selbst aus der Entfernung konnte sie erkennen, dass ihm eine schwarze Strähne in die Stirn fiel. In seinem linken Auge, das nicht von der Augenklappe verdeckt war, erkannte sie ein Lächeln. Sanft befreite sie sich aus der Umarmung ihrer Freundin.
»Ich möchte dir gern jemanden vorstellen«, verkündete sie mit fester Stimme und zog Susanne mit sich. Während sie sich mit Susanne im Schlepptau zwischen den Gästen hindurchdrängte, die mittlerweile alle das Tanzen aufgegeben hatten, sich an ihren Gläsern festhielten und wie aufgezogen aufeinander einredeten, ließ Melissa den Mann am Fuß der Treppe nicht aus den Augen. Wenn er sich in Luft auflöste, wollte sie wenigstens genau sehen, wann und wie es passierte.
Nichts dergleichen geschah. Als sie und Susanne die Treppe erreichten, stand er immer noch lächelnd da.
»Das ist Julius. Und das ist meine beste Freundin Susanne.« Sie verhakte ihren Blick fest mit dem der dunkel schimmernden Augen, als könnte sie auf diese Weise verhindern, dass er plötzlich verschwand oder irgendetwas anderes Geisterhaftes tat.
Lächelnd trat er von der untersten Treppenstufe herunter, ergriff die Hand, die Susanne ihm entgegenstreckte, neigte sich tief darüber und hauchte ihr einen Kuss auf den Handrücken. Über seinen gebeugten Rücken hinweg sah Susanne ihre Freundin mit einer Mischung aus Begeisterung und Verwunderung an.
»Julius ist ein Kavalier der alten Schule.« Es erstaunte Melissa ein wenig, dass Susanne Julius sowohl sehen als auch anfassen konnte.
»Da Annabelle eine äußerst reizende junge Dame ist, ist es natürlich nicht verwunderlich, dass auch ihre Freundin über einen ebensolchen Reiz verfügt«, ließ Julius
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