Mitternachtslust
Dämmerung hing schon zwischen den hohen Bäumen, und am Himmel funkelte bereits ein einsamer
Stern.
Eine Weile hörte Melissa zu, wie der leichte Wind die Blätter zum Flüstern brachte. Als sie zwischen den Stämmen an der Biegung des Weges eine Bewegung wahrnahm, hob sie aufmerksam den Kopf. Sie kniff die Augen zusammen und fixierte den hohen dunklen Schatten, der sich aber plötzlich in Luft aufgelöst zu haben schien. Wahrscheinlich war es nur ein Zweig gewesen, der in der Abendbrise getanzt hatte.
Mit einem leichten Kopfschütteln schloss Melissa das Fenster. Obwohl sie die Zeit allein im Haus genossen hatte, war es wohl besser, dass mit Richards Einzug das Alleinsein am Abend und in der Nacht aufhörte. Sie hatte sich nie für besonders schreckhaft gehalten, und doch schien ihre Fantasie ihr in dem einen oder anderen Moment einen Streich zu spielen, wenn sie sich abends durch die weiten Räume des Hauses bewegte oder in den stillen dunklen Garten hinausschaute.
Mit einer energischen Bewegung strich sie sich das Haar aus der Stirn und begann, die Tomaten kleinzuschneiden.
Nachdem sie den Salat auf zwei hauchzarten Glastellern angerichtet und mit frischen Kräutern bestreut hatte, entkorkte sie den Wein, damit er atmen konnte. Darauf legte Richard großen Wert. Allerdings hatte sie schon mehrmals vergessen, die Flasche rechtzeitig zu öffnen, ohne dass er es bemerkt hatte.
Sie holte Gläser aus dem Schrank, polierte sie, ließ sie probeweise im Licht der Neonröhre über dem Spülbecken funkeln und trug sie ins Esszimmer.
Dann betrachtete sie mit gerunzelter Stirn die Kerze. Sie hatte vergessen, Streichhölzer zu besorgen. Das einzige Päckchen lag in ihrem Schlafzimmer neben dem Leuchter auf dem Kaminsims.
Nachdem sie noch einmal nach dem Gratin im Backofen gesehen hatte, ging sie nach oben, um die Zündhölzer zu holen. Auf dem Rückweg durch die Halle zupfte sie die kleinen dunkelroten Kissen zurecht, die sie in die beiden Ledersessel vor dem Kamin gelegt hatte. Vielleicht würde Richard Lust haben, nach dem Essen das Feuer zu entfachen. Sie stellte es sich schön vor, vor dem Kamin zu sitzen und den Wein im Licht der Flammen funkeln zu lassen, wenn Richard auch nicht gerade derjenige war, den sie sich dabei an ihrer Seite wünschte.
Bevor sie die Kerze anzündete, wollte sie sich um die Bohnen kümmern. Sie ließ in einer Pfanne Butter schmelzen und fügte die tropfnassen Bohnen hinzu, um sie nach italienischer Art zu garen. Nachdem sie den Deckel auf die Pfanne gelegt hatte, stand sie eine Weile in Gedanken versunken neben dem Herd und erinnerte sich dann an die Kerze.
Verwundert, dass die Verbindungstür zwischen Küche und Esszimmer fest geschlossen war, obwohl sie meinte, sie offen gelassen zu haben, drückte Melissa die Klinke herunter und blieb erstaunt auf der Schwelle stehen.
Das Geschirr, die Gläser und die kleine Kristallvase standen noch genauso da, wie sie sie auf der weißen Tischdecke angeordnet hatte. Auch der silberne Leuchter war an seinem Platz in der Mitte – und die Kerze brannte mit einer großen, ruhigen gelben Flamme.
Melissa hörte ihr Herz in ihren Ohren hämmern, während ihre Kehle plötzlich wie zugeschnürt war. Sie fuhr herum, aber natürlich stand niemand hinter ihr, denn sie war allein im Haus – und dennoch brannte plötzlich die Kerze. Es war unmöglich, dass sie sie in Gedanken angezündet hatte, denn sie war sich ganz sicher, mit den Streichhölzern von oben direkt in die Küche gelaufen zu sein.
Melissa atmete tief durch und zwang sich, ruhig zu überlegen.
»Richard? Bist du da?« In dem großen leeren Haus klang ihre Stimme dünn wie die eines ängstlichen kleinen Mädchens.
Als keine Antwort kam, rief sie noch einmal. Alles blieb still, nicht einmal die Balken knarrten.
Langsam durchquerte sie die Halle, um in Richards Arbeitszimmer nachzusehen. Die Tür war geschlossen, vielleicht war er dort hineingegangen und hatte ihr Rufen nicht gehört.
Das quadratische Zimmer mit dem großen Schreibtisch in der Mitte war leer. Die Regale an der Rückwand warteten darauf, dass Richard die Aktenordner und Nachschlagewerke nach seinem eigenen System einräumte.
Auch im Wohnzimmer nebenan fand sie ihren Mann nicht. Ebenso wenig im Frühstückszimmer, dem einzigen Raum, der noch nicht eingerichtet war, weil sie sich nicht entschließen konnte, was sie aus diesem hübschen sonnendurchfluteten Zimmer machen wollte.
Melissa gab sich einen Ruck und lief noch einmal
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