Mitternachtslust
die Treppe hinauf, obwohl sie jetzt schon wusste, dass sie Richard auch im ersten Stock nicht finden würde.
Dennoch sah sie oben in alle Räume, bevor sie langsam wieder die Treppe hinunter und zurück ins Esszimmer wanderte. Die Kerze brannte immer noch ruhig und ohne jedes Flackern.
Da sich außer ihr niemand im Haus aufhielt, gab es nur eine Lösung: Sie musste die Kerze in Gedanken versunken selbst angezündet haben. Obwohl die Vorstellung sie erschreckte, dass sie Dinge tat, an die sie sich schon Minuten später nicht mehr erinnerte, konnte es nicht anders gewesen sein. Schließlich war es nicht völlig abwegig, sich an die Verrichtung kleiner Handgriffe nicht erinnern zu können. Wie oft war sie auch früher schon in die Küche gegangen, um nachzusehen, ob sie den Herd tatsächlich ausgeschaltet hatte, weil sie es einfach nicht mehr sicher wusste?
Mit einem Seufzer ließ Melissa sich auf einen Stuhl fallen. Sie starrte in die brennende Kerze, deren goldenes Licht ihr tröstlich und beruhigend erschien, obwohl sie noch vor wenigen Minuten wegen genau dieses Lichts wie aufgescheucht durchs Haus gelaufen war.
Als die Flamme plötzlich zu flackern begann, schreckte sie hoch. Sie meinte, aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrgenommen zu haben: die Tür zur Halle, die geräuschlos aufschwang.
In dem Augenblick, in dem sie den Kopf wandte, bewegte sich nichts mehr. Allerdings stand die Tür offen.
»Richard?«, krächzte sie und räusperte sich. »Richard?«
Es kam keine Antwort, aber damit hatte sie auch nicht gerechnet.
Wahrscheinlich war es ohnehin nur ein Luftzug gewesen, der die Tür bewegt hatte. Wie zur Bestätigung ihrer Vermutung flackerte die Kerze, als wäre ein leiser Wind über den Tisch hinweggegangen. Auch auf ihrem Gesicht spürte sie den leichten kühlen Hauch.
Für alles, was hier geschah, gab es eine ganz natürliche Erklärung. Warum hatte sie aber das Gefühl, nicht mehr allein im Zimmer zu sein?
Sie starrte den leeren Stuhl auf der anderen Seite des Tisches an.
»Ich fange langsam an, zu spinnen.« Der Klang ihrer Stimme beruhigte sie ein wenig. Sie probierte ein Lachen, aber es blieb ihr im Halse stecken.
Hastig griff sie nach der bereits geöffneten Weinflasche, schenkte sich einen Schluck ein, hob das Glas und prostete dem leeren Stuhl auf der anderen Seite des Tisches zu.
Wie zur Antwort zuckte die Kerzenflamme. Wahrscheinlich hatte sie dieses neuerliche Flackern mit ihrer Armbewegung ausgelöst. Es gab keinen Grund zur Beunruhigung. Mit einem Ruck kippte Melissa sich den teuren Wein in den Mund.
In diesem Moment fiel die Haustür ins Schloss. Gleich darauf klackten Richards energische Schritte über den Fliesenboden der Halle.
»Hallo.« Sie begrüßten sich mit ihrem üblichen flüchtigen Kuss auf die Wange, dann eilte Melissa in die Küche, um sich um die Bohnen und das Fleisch zu kümmern.
Als sie fünf Minuten später mit den Salattellern in den Händen das Esszimmer betrat, brannte die Kerze auf dem Tisch nicht mehr.
Sie fragte Richard nicht, warum er sie gelöscht hatte, sondern griff einfach nach den Streichhölzern, um sie wieder anzuzünden.
»Hast du dich schon eingelebt?«, erkundigte Richard sich, nachdem er seinen Salat zur Hälfte gegessen hatte.
Melissa nickte. »Die meisten Zimmer sind fertig eingerichtet. Du musst nur noch deine Arbeitsunterlagen auspacken. Das wolltest du ja selbst machen.« Sie spießte ein Tomatenstückchen auf und betrachtete es gedankenverloren, bevor sie es sich zwischen die Lippen schob.
»Und wie geht es im Büro voran?«, spielte sie ihm pflichtschuldigst den nächsten Ball zu.
»Sehr gut.« Mit entschlossener Miene machte er auf seinem Teller Jagd auf das letzte, widerspenstige Salatblatt. »Natürlich gibt es eine Menge zu tun. Aber das bekomme ich in den Griff.«
Melissa holte das Fleisch und das Gemüse aus der Küche, schenkte Wein nach und nickte an den richtigen Stellen, während Richard in allen Einzelheiten über die unsinnigen Entscheidungen seines Vorgängers berichtete und seine eigenen Gegenmaßnahmen erläuterte.
Nachdem Melissa zum Dessert die vorbereitete Vanillecreme serviert und er sie in Rekordzeit verspeist hatte, lehnte Richard sich aufseufzend zurück.
»Sei froh, dass du dich nur mit diesem Haus und nicht mit einer ganzen Firma herumplagen musst!« Er strich sich mit den Fingerspitzen über die gerunzelte Stirn.
Melissa betrachtete ihn nachdenklich. »Bist du müde?«, erkundigte sie sich
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