Mitternachtsschatten
…“
„Und sei nicht so verdammt eingebildet, nur weil du Latein gelernt hast“, unterbrach sie ihn und starrte auf ihre Fingernägel, die sie jeden Tag ein wenig feilte, weil sie tatsächlich immer noch eine kleinste Unebenheit fand. Wie herrlich es war, niemals älter zu werden! Zwar konnte sie sich in den Spiegeln, die in jedem Zimmer des La Casa hingen, nicht sehen, aber sie erkannte an Teds Blicken, dass sie so schön war wie eh und je. Mehr brauchte sie nicht.
„Sie werden es nicht abreißen“, sagte er geduldig. „Dieses Haus hat die Sechziger und diese abstoßenden Langhaarigen, die hier kampiert haben, überlebt. Es hat Jahre der Vernachlässigung überstanden – und jetzt haben wir wenigstens jemanden, der das Haus genauso liebt wie wir. Sie wird schon darauf aufpassen. Und auf uns.“
„Aber wenn nicht?“ rief Brenda. „Was, wenn es abgerissen wird und ein neues Geschäftshaus gebaut wird? Dann müssen wir heimatlos herumwandern, verloren …“
„Schätzchen“, murmelte er mit seiner warmen und tröstenden Stimme, „wir schaffen das schon. Schaffen wir es nicht immer, wir beide zusammen?“ Sie schmiegte sich in seine Arme und fand den Frieden, der stets dort auf sie wartete, und sah ihn an, so liebevoll, so süß, so reizend, so endgültig.
„Für immer“, sagte sie mit zitternder Stimme. Sie presste ihre karminroten Lippen auf seinen Mund, und sie begannen, sich in Luft aufzulösen.
1. KAPITEL
I mmer wenn Jilly Meyer sich dem Büro ihres Vaters näherte, entspann sie in Gedanken ganz absurde Fantasien. Als sie das letzte Mal hier gewesen war, hatte sie sich nicht gegen das Bild einer französischen Edeldame wehren können, die auf einem Karren zu ihrer Hinrichtung gefahren wird. Das tatsächliche Treffen mit ihrem Vater entwickelte sich dann fast ebenso schlimm, woraufhin sie in den folgenden eineinhalb Jahren kaum eine Hand voll Worte miteinander gewechselt hatten.
Nun war sie wieder hier, nur fühlte sie sich diesmal nicht wie eine Märtyrerin, die ihr Schicksal eben hinnimmt. Diesmal war sie eine Kriegerin und bereit, gegen das Böse zu kämpfen. Sie musste nur noch Charon, den Fährmann der Unterwelt, bitten, sie über den Fluss Styx zu bringen, damit sie Satan selbst treffen konnte.
Natürlich ist es nicht nett, den eigenen Vater mit dem Teufel zu vergleichen, dachte sie zerstreut. Und die streng blickende Mrs. Afton hatte es auch nicht verdient, Charon genannt zu werden, auch wenn sie ihren Arbeitgeber mit einem ähnlich besessenen Eifer abschirmte.
„Ihr Vater ist ein sehr beschäftigter Mann, Jilly“, sagte Mrs. Afton in dem eisigen Ton, der Jilly als Kind in Angst und Schrecken versetzt hatte. „Sie sollten es eigentlich besser wissen und nicht einfach unangemeldet hier auftauchen. Sie können nun wirklich nicht erwarten, dass er für Sie alles stehen und liegen lässt. Aber ich schaue mal in seinen Kalender, ob ich sie irgendwann dazwischenschieben kann …“
„Ich rühre mich nicht von der Stelle, bevor ich ihn nicht gesehen habe“, sagte Jilly, und ihre Stimme zitterte nicht, welch ein Segen! Mrs. Afton entmutigte sie zwar wie immer, doch ihr Vater hatte nun endgültig keine Macht mehr über sie. Grundsätzlich ging Jilly allerdings Auseinandersetzungen lieber aus dem Weg, und sie wusste, dass jetzt eine ziemlich große auf sie zukommen würde.
Mrs. Afton presste ihre dünne Lippen missbilligend zusammen, doch Jilly rührte sich nicht vom Fleck. Sie war noch drei Türen vom Heiligtum entfernt, aber diese Türen waren elektronisch gesichert. Wenn sie also versuchen würde, einfach durchzumarschieren, würde das peinlich enden.
„Sie können im Empfangszimmer warten“, sagte Mrs. Afton endlich, ohne das Gefühl zu vermitteln, dass sie kapituliert hatte. „Ich werde mal sehen, ob er einen Augenblick Zeit für Sie hat, aber ehrlich gesagt glaube ich das nicht.“
Die, die ihr eintretet, verbannt alle Hoffnung, dachte Jilly und sagte: „Es macht mir nichts aus zu warten.“
Immerhin war es schon nach drei Uhr, und seit ihr Vater mit Melba verheiratet war, arbeitete er nicht mehr ganz so besessen wie früher. Jilly wusste nicht, ob Jackson Meyer aus Eifersucht oder einfach Bequemlichkeit seine dritte Frau nicht genauso verließ wie seine ersten beiden, und sie wollte es auch gar nicht wissen. Offenbar war der alte Bastard einfach ein wenig ruhiger geworden, hoffentlich ruhig genug, um ihr, Jilly, das zu geben, was sie so verzweifelt wollte.
In dem in Grau
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