Mitternachtsspitzen: Roman (German Edition)
in ihrer Kindheit Trost suchend zu ihren Eltern ins Bett schlüpfen können, wäre es vermutlich halb so schlimm. Stattdessen hatte sie sich in ihrem Verschlag unter der Bettdecke verkrochen und zähneklappernd befürchtet, jede Sekunde von einem Blitz getroffen zu werden.
Cain war erst vor einer halben Stunde zurückgekehrt. Da Mrs. Simmons, die Hausmädchen und Magnus ihren freien Tag hatten, war der Yankee allein im Haus. Und sobald er eingeschlafen wäre, hätte Kit leichtes Spiel.
Das ferne Donnergrollen trieb ihr einen Schauer über den Rücken. Sie versuchte sich einzureden, dass das Gewitter auch seine Vorteile hätte. Es würde verdächtige Geräusche übertönen, wenn sie durch das angelehnte Küchenfenster ins Haus schlüpfte. Aber das überzeugte sie nicht. Stattdessen stellte sie sich vor, wie sie sich in ein, zwei Stunden durch die dunklen Straßen flüchtete, mitten in einem Wolkenbruch. Und von einem Blitz getroffen würde.
Sie zuckte zusammen, als ein Blitz den Himmel erleuchtete. Um sich abzulenken, ging sie noch einmal ihren Plan durch. Sie hatte den Revolver ihres Vaters frisch geölt und, um sich Mut zu machen, noch einmal Mr. Emersons Essays gelesen. Ihre fertig gepackte Habe lag hinter dem Kutschenverschlag versteckt, die brauchte sie nur rasch dort wegholen.
Gleich nachdem sie den tödlichen Schuss auf Cain abgefeuert
hätte, wollte sie zu den Docks auf der Cortlandt Street, um die erste Fähre nach Jersey City zu nehmen. Von dort aus konnte sie mit dem Zug nach Charleston zurückfahren. Dann wäre der lähmende Alptraum, der mit diesem grässlichen Notar begonnen hatte, endlich vorbei. Mit Cains Tod würde Rosemarys Testament unwirksam, und Risen Glory gehörte ihr. Sie musste nur noch sein Schlafzimmer finden, zielen und feuern.
Sie schauderte bei dem Gedanken, einen Menschen zu töten. Trotzdem, dieser Baron Cain hatte es nicht besser verdient.
Inzwischen war er sicher eingeschlafen. Es wurde auch langsam Zeit. Sie nahm den geladenen Revolver und glitt geräuschlos die Stalltreppe hinunter, sorgsam darauf bedacht, den schlafenden Merlin nicht zu wecken. Bedrohliches Donnergrollen ließ sie am Scheunentor verharren. Sei nicht kindisch, schalt sie sich und schoss über den Hof zum Haus. Kroch im Schutz der Gartenhecke zum Küchenfenster.
Sie stopfte den Revolver in den Hosenbund und versuchte das Fenster zu öffnen. Nichts. Es war verschlossen.
Sie rüttelte abermals daran, und diesmal energisch, aber nichts passierte. Das Fenster war fest verriegelt.
Bestürzt lehnte sie sich an die Hausmauer. Ihr Plan war zwar nicht idiotensicher gewesen, aber ein Scheitern hatte sie wahrlich nicht einkalkuliert. Bestimmt hatte Mrs. Simmons das Fenster vor ihrem Aufbruch noch rasch zugemacht.
Es fing an zu regnen. Am liebsten wäre Kit in ihre Kammer gelaufen und hätte sich bis auf Weiteres unter der Bettdecke verkrochen. Gleichwohl nahm sie allen Mut zusammen und pirschte um das Haus, auf der Suche nach einer anderen Einstiegsmöglichkeit. Der Regen war heftiger geworden, ihr Hemd schon ganz nass. Ein mächtiger
Ahorn knackte in dem auffrischenden Wind. Durch das Geäst erspähte Kit ein angelehntes Fenster im ersten Stock.
Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Der Sturm toste über ihr, ihr Atem ging in kurzen, abgehackten Stößen. Widerstrebend packte sie einen der herunterhängenden Äste und zog sich daran hoch.
Ein Blitzstrahl teilte den Himmel, und der Baum erzitterte. Ebenso schockiert über das wütende Unwetter wie über ihr Hasenherz, umklammerte sie den Ast. Die Zähne zusammengebissen, kletterte sie höher. Schließlich fand sie einen dicken Zweig, der nah genug an das Haus heranzureichen schien. Wegen des pechschwarzen Regenhimmels konnte sie nämlich kaum die Hand vor Augen erkennen.
Als auf den Blitz das Krachen des Donners folgte, stöhnte sie erstickt auf. Dennoch hangelte sie sich weiter. Der windgepeitschte Ast bog sich bedrohlich unter ihrem Gewicht.
Wieder erhellte ein Blitz die Dunkelheit. Im gleichen Moment gewahrte sie, dass der Ast nicht weit genug an das Haus heranreichte. Verzweiflung überkam sie.
Sie blinzelte, wischte sich die Nase mit dem Hemdsärmel und kletterte frustriert vom Baum.
Am Boden angekommen, schlug ein Blitz so nah neben ihr ein, dass es ihr in den Ohren dröhnte. Zitternd presste sie sich an den Stamm des Ahorns. Ihre Anziehsachen klebten ihr auf der Haut, die durchweichte Hutkrempe hing wie ein schlabbriger Pfannkuchen um ihren Kopf. Tränen der
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