Mitternachtsspitzen: Roman (German Edition)
das war der berühmt-berüchtigte Baron Cain … Die Frau lebte erst seit drei Monaten in Rutherford, hatte aber schon viel über den neuen Besitzer von Risen Glory gehört. Allerdings hatte sie ihn sich ganz anders vorgestellt. Ihre Augen glitten von seinen breiten Schultern zu dem schmalen Becken. Er sah fantastisch aus.
Veronica Gamble stammte ursprünglich aus den Südstaaten. Gebürtig in Charleston, hatte sie mit knapp achtzehn
den Porträtmaler Francis Gamble geheiratet. In den folgenden vierzehn Jahren waren sie in Florenz, Paris und Wien beheimatet gewesen, wo Francis exorbitante Preise für seine zauberhaften Bilder adliger Damen und Kinder erzielt hatte.
Nach dem Tod ihres Gatten im vergangenen Winter war Veronica finanziell also sehr gut versorgt. Spontan hatte sie sich entschieden, nach Carolina zurückzukehren und in das hübsche Haus einzuziehen, das Francis von seinen Eltern geerbt hatte. Dort wollte sie in aller Ruhe ihr weiteres Leben planen.
Mit Anfang dreißig war sie eine hinreißende Erscheinung. Das kastanienbraune, aus der Stirn frisierte Haar fiel in weichen Wellen über ihre Schultern. Der sanfte Kupferschimmer bot einen bezaubernden Kontrast zu den leicht schräg stehenden, meergrünen Augen. Die volle Unterlippe, die bei anderen Frauen aufreizend gewirkt hätte, gab ihrem Gesicht etwas Sinnliches.
Trotz der etwas zu langen Nase und der scharf geschnittenen Gesichtszüge war sie eine Schönheit. Zudem hatte sie Witz, Geist und eine schnelle Beobachtungsgabe.
Sie glitt zum Kirchenportal, wo Reverend Cogdell seine Schäfchen begrüßte. »Ah, Mrs. Gamble. Wie schön, dass Sie heute Morgen hier sind. Ich glaube, Sie kennen Miss Dorthea Calhoun noch nicht. Und das ist Mr. Cain von Risen Glory. Wo steckt denn Katharine Louise? Ich möchte natürlich nicht versäumen, Sie mit ihr bekannt zu machen.«
Veronica Gamble interessierte sich weder für Miss Dorthea Calhoun noch für irgendeine Katharine Louise. Dafür umso mehr für den beeindruckenden Herrn, der neben dem Pastor stand. Anmutig neigte sie den Kopf. »Ich habe schon viel von Ihnen gehört, Mr. Cain. Und nicht nur Positives.«
Rawlins Cogdell wand sich innerlich, aber Cain lachte nur. »Ich wünschte, ich hätte das Glück gehabt, auch etwas über Sie zu erfahren.«
Veronica schob ihre behandschuhten Finger in seine Armbeuge. »Das lässt sich leicht nachholen.«
Kit vernahm Cains Lachen, gleichwohl galt ihre ganze Aufmerksamkeit Brandon. Sein Gesicht war sogar noch attraktiver als in ihrer Erinnerung, und die vorwitzige Locke, die ihm beim Reden in die Stirn fiel, richtig süß.
Die beiden Männer hatten vollkommen unterschiedliche Charaktere. Brandon war höflich, Cain ein ungehobelter Primitivling. Und Brandon machte sich auch nicht lustig über sie. Er war nämlich von Kopf bis Fuß ein Südstaaten-Gentleman.
Sie betrachtete seinen Mund. Wie es wohl wäre, wenn er sie küsste? Sicher ungemein berauschend. Und viel schöner als Cains Überfall am Tag ihrer Ankunft.
Ein Überfall, gegen den sie sich nicht im Geringsten gewehrt hatte.
»Seit New York habe ich oft an Sie gedacht«, bemerkte Brandon.
»Ich bin geschmeichelt.«
»Hätten Sie nicht Lust, morgen mit mir auszureiten? Die Bank schließt um drei. Ich könnte um vier in Risen Glory sein.«
Kit sah ihn unter gesenkten Wimpern hinweg an, eine Technik, die sie in Templeton perfektioniert hatte. »Gern, Mr. Parsell.«
»Also, dann bis morgen.«
Lächelnd wandte sie sich ab. Ihr Blick fiel auf mehrere junge Männer, die einen günstigen Moment abpassen wollten, um sich ihr vorzustellen.
Während die Gentlemen um ihre Aufmerksamkeit wetteiferten, bemerkte sie Cain im Gespräch mit einer attraktiven
Brünetten. Missmutig registrierte sie, wie die Frau an seinen Lippen hing. Wenn er doch bloß einmal zu ihr blicken würde! Dann könnte er nämlich sehen, dass sie von Männern umlagert war. Ärgerlicherweise tat er ihr den Gefallen nicht.
Miss Dolly unterhielt sich angeregt mit Reverend Cogdell und dessen Frau Mary, einer entfernten Verwandten von ihr. Kit bemerkte, dass die Cogdells zunehmend irritiert wirkten. Hastig verabschiedete sie sich von den Herren und lief zu Miss Dolly.
»Können wir fahren, Miss Dolly?«
»Aber ja, meine Liebe. Ich habe Reverend Cogdell und seine liebe Frau Mary schon Jahre nicht mehr gesehen. Was für ein schönes Wiedersehen, wenn nur die neuerlichen Ereignisse am Bull Run nicht wären! Aber das ist Altweibergeschwätz, Schätzchen.
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