Mitternachtsspitzen: Roman (German Edition)
Nichts, worüber Sie sich Ihr hübsches Köpfchen zerbrechen sollten.«
Cain musste die anrollende Katastrophe gespürt haben, denn er tauchte unvermittelt neben Kit auf. »Miss Calhoun, die Kutsche ist vorgefahren.«
»Aber ja, danke General –« Miss Dolly presste bestürzt die Finger auf die Lippen. »Ich… ich meine natürlich Major. Ich Dummchen.« Mit flatternden Hutbändern lief sie zur Kutsche.
Der Reverend und seine Frau starrten ihr entgeistert hinterher.
»Sie denkt, ich wäre General Lee, der sich getarnt auf Risen Glory versteckt hält«, meinte Cain rundheraus.
Rawlins Cogdell rang peinlich berührt die Hände. »Major Cain, Katharine, ich bitte vielmals um Entschuldigung. Als meine Frau Dolly Calhoun für die Aufgabe der Gouvernante empfahl, hatten wir ja keine Ahnung … Meine Güte, das geht nie gut!«
Mary Cogdells braune Knopfaugen signalisierten Betroffenheit.
»Es ist allein meine Schuld. Wir wussten zwar, dass sie relativ mittellos dastand, aber dass sie debil ist, war uns nicht bekannt.«
Kit wollte protestieren, doch Cain fiel ihr ins Wort. »Machen Sie sich keine Gedanken wegen Miss Calhoun. So schlimm steht es nun auch wieder nicht um sie.«
»Unter diesen Umständen kann Katharine unmöglich auf Risen Glory bleiben«, erregte sich der Geistliche. »Dolly Calhoun ist als Aufsichtsperson erkennbar ungeeignet. Immerhin hat sie heute mit etlichen Leuten geplaudert. Spätestens heute Nachmittag weiß die ganze Gegend, was mit ihr los ist. Es geht nicht. Es geht wirklich nicht. Stellen Sie sich das Gerede vor, Mr. Cain. Entsetzlich! Sie sind ein junger Mann…«
»Kit ist mein Mündel«, unterbrach er den Reverend.
»Und wenn schon, Sie sind nicht blutsverwandt.«
Mary Cogdell umklammerte ihr Gebetbuch. »Katharine, du bist eine unerfahrene junge Frau. Demnach machst du dir womöglich gar kein Bild, wie die Situation auf andere wirken muss. Aber auf Risen Glory kannst du wirklich nicht bleiben.«
»Ich verstehe ja Ihre Bedenken«, erwiderte Kit, »aber ich war drei Jahre weg von zu Hause und habe nicht vor, Hals über Kopf wieder abzureisen.«
Mary Cogdell blickte hilfesuchend zu ihrem Gatten.
»Ich versichere Ihnen, Miss Dolly ist die Schicklichkeit in Person«, räumte Cain zu Kits Überraschung ein. »Sie hätten mal sehen sollen, was für einen Wirbel sie heute Morgen um Kit gemacht hat.«
»Trotzdem…«
Cain nickte knapp. »Wenn Sie uns jetzt entschuldigen wollen, Reverend Cogdell, Mrs. Cogdell. Und bitte, machen Sie sich keine Gedanken.« Er fasste Kits Arm und geleitete sie zur Kutsche, wo Miss Dolly schon wartete.
Rawlins Cogdell und seine Frau blickten dem Landauer skeptisch nach. »Das gibt Probleme«, brummte der Pfarrer. »Das spür ich in den Knochen.«
Kit hörte das Knirschen von Kies und wusste, dass Brandon eingetroffen war. Als sie sich noch rasch im Spiegel begutachtete, lächelte ihr eine junge Dame im schicklichen Reitkostüm entgegen. Heute waren weder Jungensachen noch Temptation angesagt. Stattdessen musste sie sich schweren Herzens mit dem Damensattel und Lady begnügen.
Am frühen Morgen war sie unter einem perlmuttfarbenen, zartrosa überhauchten Himmel auf Temptation durch die Felder galoppiert. Dieses wilde, aufpeitschende Erlebnis war vermutlich nicht vergleichbar mit dem Ausritt am Nachmittag.
Sie musste zugeben, dass das neue Reitkostüm ihrer Figur schmeichelte, auch wenn es grässlich unbequem war. Die schmal geschnittene Jacke aus dunkelrotem Tuch war mit schwarzer Kordel abgesetzt und betonte ihre schlanke Taille. Der lange, weite Rock hatte eine breite, schwarze Bordürenstickerei am Saum.
Sie überprüfte rasch, ob sie auch keinen offenen Knopf oder Haken übersehen hatte. Die vier schwarzen Knebelverschlüsse an der Jacke waren eingehakt, der schwarze Damenzylinder mit dem hauchzarten, bordeauxroten Schleier saß perfekt. Sie hatte ihr Haar zu einem Nackenknoten frisiert und sogar ihre Stiefel poliert.
Zufrieden mit ihrem Aussehen, schnappte sie sich die Reitpeitsche und glitt aus dem Zimmer. Ihre schwarzen Reithandschuhe vergaß sie dummerweise. Als sie in die Halle kam, drangen Stimmen vom Hof zu ihr herein. Zu ihrer Bestürzung stand Cain in der Auffahrt und plauderte angeregt mit Brandon.
Die beiden Männer waren wirklich grundverschieden. Brandon hatte sich dem Anlass entsprechend ausstaffiert, mit Hut, Jackett, Reithose und flaschengrüner Weste. Seine Kleidung war zwar abgetragen und etwas aus der Mode, aber sauber und
Weitere Kostenlose Bücher