Mitternachtsspitzen: Roman (German Edition)
ihr besser den Hut, bevor sie noch die Bänder abreißt, Miss Calhoun.«
»Gewiss, General.« Miss Dolly drehte sich zungenschnalzend zu Kit. »Kommen Sie, meine Liebe. Heben Sie ein bisschen den Kopf, und lassen Sie mich das machen.«
Kit blieb nichts anderes übrig, als sich Miss Dollys Anweisungen zu fügen, während Cain belustigt zuschaute. Schließlich war die ältere Dame mit der Schleife zufrieden, und man setzte sich in Richtung Kutsche in Bewegung.
Sobald Cain Miss Dolly hineingeholfen hatte, fuhr Kit ihn an: »Ich möchte wetten, dies ist das erste Mal, dass Sie einen Fuß in unsere Kirche setzen. Wieso bleiben sie nicht einfach zu Hause?«
»Pech für dich. Um nichts in der Welt würde ich dein Wiedersehen mit den ehrbaren Bürgern von Rutherford versäumen wollen.«
Vater unser im Himmel …
Funkelndes Sonnenlicht strömte durch die bunten, bleiverglasten Fenster in das gut besuchte Kircheninnere. Die Bewohner von Rutherford sprachen von einem Wunder, dass diese Fenster dem leibhaftigen Satan in Gestalt von William Tecumseh Sherman getrotzt hatten.
In ihrer modischen Aufmachung fühlte Kit sich unwohl zwischen den verwaschenen Kleidern und den Vorkriegshauben der übrigen Frauen. Sie hatte sich von ihrer besten Seite zeigen wollen, dabei aber nicht berücksichtigt, wie arm alle waren. Ein solcher Lapsus würde ihr bestimmt nicht wieder passieren.
Sie dachte an die kleine Holzkirche nicht weit von Risen
Glory, wo die Sklaven von den umliegenden Plantagen ihren Gottesdienst abgehalten hatten. Da Garrett und Rosemary schon aus reiner Bequemlichkeit nie zum Gotteshaus nach Rutherford gefahren waren, hatte Sophronia Kit jeden Sonntag mitgenommen. Obwohl selber noch ein halbes Kind, hatte Sophronia konsequent darauf geachtet, dass Kit der Predigt beiwohnte.
Kit hatte die kleine Kirche sehr gemocht. Unweigerlich verglich sie die strengen Rituale mit den fröhlichen Andachten in ihrer Kindheit. Sophronia war jetzt dort, und Magnus und all die anderen.
Kits erste Begegnung mit Magnus war recht unterkühlt verlaufen. Er schien sich über ihr Wiedersehen zu freuen, aber die frühere Vertrautheit zwischen ihnen fehlte völlig. Sie war jetzt erwachsen, eine Weiße, und da hielt ein Schwarzer tunlichst Distanz.
Eine Fliege summte vor ihrer Nase, und sie blinzelte verstohlen zu Cain. Seine Miene undurchdringlich wie stets, blickte er höflich zur Kanzel. Sie war froh, dass Miss Dolly zwischen ihnen saß. Seine direkte Nähe hätte ihr den schönen Sonntagmorgen verdorben.
In den Bankreihen gegenüber erspähte Kit Brandon Parsell. Sein Augenmerk galt nicht zwangsläufig dem Altar. Sie schenkte ihm ein leises Lächeln, dann neigte sie den Kopf so, dass der Rand ihres Strohhuts ihr Gesicht beschattete. Bevor sie die Heimfahrt antraten, würde sie das Gespräch mit ihm suchen. Ein Monat war knapp, da durfte sie keine Sekunde ungenutzt verstreichen lassen.
Sobald der Gottesdienst endete, war Kit von Gemeindemitgliedern umlagert. Sie hatten davon gehört, dass die kleine Range von einst in einem New Yorker Mädchenpensionat in eine junge Dame verwandelt worden war, und wollten das natürlich mit eigenen Augen sehen.
»He, Kit Weston, lass dich anschauen…«
»Was bist du für eine feine Dame geworden!«
»Grundgütiger, dein seliger Dad würde dich nicht wiedererkennen.«
Das Wiedersehen mit Kit stürzte die Ortsbewohner in ein Dilemma. Zwangsläufig mussten sie nämlich auch ihren gesetzlichen Vormund, diesen Yankee, begrüßen. Und dieser Mann war für die angesehenen Rutherforder Familien bislang Luft gewesen.
Zögernd nickte der eine oder andere ihm zu. Ein Kirchgänger erkundigte sich nach Cains Baumwollernte. Della Dibbs dankte ihm, dass er für die Bibelgesellschaft gespendet hatte. Clement Jakes wollte seine Meinung zum Thema Wetterumschwung wissen. Die Unterhaltung war reserviert, die Botschaft dennoch eindeutig: Es wurde Zeit, dass man seine Vorbehalte gegenüber Baron Cain aufgab.
Untereinander würden die Dorfbewohner freilich so tun, als ob sie ihn nur ihr zuliebe akzeptierten, überlegte Kit. Im Grunde genommen waren sie jedoch froh über die Gelegenheit, ihn endlich in ihren kleinen Kreis aufzunehmen. Und wenn auch nur, um wieder neuen Gesprächsstoff zu haben. Dass Cain womöglich gar kein Interesse an einer solchen Integration hatte, kam ihnen überhaupt nicht in den Sinn.
Etwas abseits von den Kirchgängern stand eine aparte Frau, die das Geschehen milde belustigt verfolgte. Also
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