Mitternachtsstimmen
Menschen, sondern aus erdachten, und um in
meiner Arbeit glaubhaft zu sein, darf ich selbst auch nicht mehr
sein als eine Rolle. Aus diesem Grund sind wahrscheinlich
meine Beziehungen fehlgeschlagen, aber meine Karriere ist
erfolgreich gewesen. Ich bin nicht mehr als die Person, die ich
auf der Bühne darstelle; eine andere gibt es nicht. Suchen Sie
nicht nach meiner Vergangenheit und rätseln Sie nicht über
meine Zukunft, denn beide existieren nicht. Nur das, was Sie
im Scheinwerferlicht sehen, ist real, sonst nichts.«
Caroline las das Zitat insgesamt dreimal durch, dann machte
sie die anderen Seiten auf. Überall das Gleiche – keinerlei
Hinweise auf ihre Herkunft, ihr Alter oder ihre Familie. Nur
immer wieder das gleiche Zitat:
»… suchen Sie nicht nach meiner Vergangenheit und rätseln
Sie nicht über meine Zukunft …«
Sie ging zurück zur Suchmaschine, tippte nur den Namen
Estherbrook ein und ERWEITERTE SUCHE. Außer Virginia
gab es nur sehr wenige Einträge.
Und wie aus dem Nichts flog ihr plötzlich die Antwort zu,
die so offensichtlich war, dass sie sich wie eine Idiotin vorkam.
Wenn alles an Virginia Estherbrook Fiktion war, warum dann
nicht auch der Name? Schließlich war sie Schauspielerin.
Herrgott noch mal, legten die sich nicht alle Künstlernamen
zu? Oder zumindest damals zu Virginia Estherbrooks Blütezeit? Aus France Gumm war Judy Garland geworden. Wenn
nun Virginia Estherbrooks richtiger Name Hortense Finkleman
gelautet hatte? Wer hätte den nicht geändert? Aber selbst wenn
dem so war, musste es doch irgendjemand irgendwo gewusst
haben. Noch einmal ging sie alle Einträge zu Virginia
Estherbrooks Karriere durch, ohne genau zu wissen, wonach
sie eigentlich suchte. Eine der Seiten – die weitaus Umfangreichste – enthielt nicht nur alle Informationen, die Caroline
schon ein Dutzend Mal zuvor gelesen hatte, sondern auch eine
Sammlung Kritiken beinahe aller Stücke, in denen Virginia
Estherbrook jemals aufgetreten war. Eine der frühesten betraf
eine Produktion von Romeo und Julia, die beinahe fünfzig
Jahre zurücklag:
»Selten hatte das Broadway-Publikum Gelegenheit, eine
Julia von so ergreifender Präsenz zu erleben wie die von Miss
Estherbrook gespielte, die sich mit ungeheurem Erfolg erstmals
an dieser Rolle versucht hat, an der etliche weitaus erfahrenere
(und bekanntere) Kolleginnen gescheitert waren. Man muss
schon vier Dekaden zurückschauen, auf die unvergleichliche
Faith Blainte, um eine Julia von dieser Ausdruckskraft und
Tiefe zu finden. In der Tat erscheint mir Virginia Estherbrook
als würdige Nachfolgerin der legendären Faith Blaine, die sich
vor gut fünf Jahren von der Bühne verabschiedet und in ihre
Wohnung im Rockwell zurückgezogen hat.«
Das Rockwell?
Was zum Teufel ging hier vor?
Sie surfte noch einmal im Netz, diesmal auf der Suche nach
Informationen über Faith Blaine, an deren Namen sie sich
entfernt erinnerte, aber keine Ahnung hatte, wie die Frau
ausgesehen hatte.
Als dann ein paar Augenblicke später ein Bild auf dem
Monitor erschien, glaubte Caroline, einen Fehler gemacht zu
haben, dass sie sich versehentlich wieder auf die Seiten von
Virginia Estherbrook geklickt hatte. Doch die Bildunterschrift
besagte: »Faith Blaine als Julia in der legendären Aufführung
von 1914, die sie zum Star machte.«
Das Bild war eine Vignette, die keinen Zweifel am Datum
der Aufnahme ließ. Die Schauspielerin trug ein transparentes
Kostüm – eines, das man zu Zeiten, als melodramatische
Aufführungen sehr viel weniger realistisch waren als heute,
sicherlich als absolut passend für den dramatischen und
tragischen Tod der Hauptfigur erachtet hatte. Faith Blaine
presste die Hände auf die Brust und hatte den Kopf erhoben,
als schaute sie geradewegs ins Paradies und sähe ihre verlorene
Liebe. Das Bild war verblasst und etwas unscharf, doch selbst
unter der dicken Bühnenschminke erkannte Caroline nicht nur
die Ähnlichkeit mit Virginia Estherbrook ganz deutlich,
sondern auch mit Melanie Shackleforth.
Zufall?
Oder waren Faith Blaine und Virginia Estherbrook
miteinander verwandt?
Plötzlich kamen ihr Melanie Shackleforth’ Worte wieder in
den Sinn: »… es gibt Zeiten, da glaube ich beinahe, in
Wirklichkeit Virgies Tochter zu sein …«
War es das? War Melanie wirklich Virginias Tochter?
Könnte Faith Blaine Virginias Mutter gewesen sein? So
musste es sein – alles andere ergab keinen Sinn. Und es würde
die
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