Mitternachtsstimmen
neben ihrem Bett wahr. Sie wollte den Kopf drehen,
in die Dunkelheit spähen, die nur von einem schwachen
Lichtstrahl gebrochen wurde, der sich durch einen winzigen
Spalt in der Jalousie stahl.
Ein Schatten, noch finsterer als die Dunkelheit um sie
herum, schwebte über ihr.
Und einen Moment später noch einer.
Lauries Herz begann zu rasen, und wieder stieg ein Schrei
ihre Kehle hoch, doch so sehr sie sich auch anstrengte, sie
konnte der panischen Angst, die sie zu ersticken drohte, keine
Stimme geben.
Das Wispern hörte sich jetzt an, als flatterten Tausende von
Fledermäusen im Dunkeln um sie herum.
»… jung …«
»… so süß …«
»… weich …«
»… zart …«
Etwas berührte sie – ein unsichtbarer Finger drückte sanft
das Fleisch ihres Oberschenkels.
Ein anderer ihren Magen.
Ein Zwicken in den Oberarm, das aber nicht wehtat.
Wieder Stimmen: »… ja, nun ist sie perfekt. Ideal …«
Mehr Finger, die wie Maden unter ihren Rücken krochen.
Den Fingern folgten Hände.
Wie viele Hände?
Sie wusste es nicht.
Zu beiden Seiten erhoben sich nun die Schattengestalten,
beugten sich über sie. Dann spürte sie, wie sie hochgehoben
und durch die Dunkelheit getragen wurde.
Unter ihr etwas Hartes.
Bewegung, dann ein Ruck, gefolgt von einem neuen
Geräusch.
Räder, die über den Eichenboden rollten.
Hinein in noch tiefere Dunkelheit, wo die flüsternden
Stimmen plötzlich hohl klangen, und ferne Echos an ihr Ohr
drangen.
Auf einmal war es hell, und sie konnte die Gestalten um sich
herum sehen.
Gesichter lächelten sie an – Gesichter, die sie kannte.
Melanie Shackleforth, die ihr zärtlich eine Locke aus der
Stirn strich.
Helena Kensington, die welken Hände vor der Brust
verschränkt, starrte sie aus leuchtenden, lebendigen Augen an,
die die gleiche Farbe hatten – blau – wie die von Rebecca
Mayhew.
»So hübsch«, wisperte Helena. »Viel hübscher noch als ich
glaubte, als ich ihr Gesicht nur berühren konnte.« Sie beugte
sich näher zu ihr und zeichnete mit einem Finger Lauries
Kieferlinie nach. »Weißt du noch, Liebes? Weißt du noch, wie
ich dich berührt habe?«
Laurie bekam eine Gänsehaut und wollte zurückweichen,
doch es gehorchten ihr weder ihre Arme noch die Beine.
Plötzlich tauchte Irene Delamond auf und beugte sich so tief
zu ihr herab, dass Laurie sich nicht von ihrem stinkenden Atem
abwenden konnte. »Möchtest du noch einen Muffin, Kleines?
Er wäre gut für dich … genau wie für mich.«
Sie biss zwar die Zähne zusammen, doch die alte Frau
zwängte ihr einen teigigen Klumpen in den Mund.
»Spül ihn runter, Schätzchen«, zischelte eine andere Stimme,
und jetzt war auch Lavinia Delamond neben ihr, mit einem
Glas in der Hand. Mit einer zittrigen Hand hob die uralte Frau
Lauries Kopf an und hielt ihr mit der anderen das Glas an die
Lippen.
Wehrlos wie sie war, musste es Laurie über sich ergehen
lassen, dass Lavinia ihr etwas einflößte, das so süß war, dass
sie sich beinahe erbrechen musste.
»Gut«, säuselte Lavinia. »Hm, das ist gut …«
Laurie spürte, wie ihre Kehle taub wurde.
Dann fing es an.
Einer nach dem anderen wurden mehr als ein Dutzend
Schläuche in Laurie eingeführt. Sie drangen durch jede
Körperöffnung, und wo es keine gab, punktierten Nadeln ihre
Haut, bohrten sich in jedes Organ, jede Drüse. Sie versuchte
sich abzuwenden, den Kopf wegzudrehen und die Lippen
zusammenzukneifen, doch es gab kein Entrinnen. Jeder
Schlauch führte zu einer Art Pumpe, von der ein zweiter
Schlauch wegführte. Am Ende dieser Schläuche wiederum
fanden sich ebenfalls Nadeln, die in einer Vene oder direkt im
Körper einer dieser ausgemergelten alten Frauen um sie herum
steckten.
»Schlaf«, flüsterte eine schmeichelnde Stimme an ihr Ohr.
»Schlaf süß, und wenn der Morgen graut, wird alles nur ein
Traum gewesen sein.«
Als die Schläuche sich mit Flüssigkeit füllten – manche
blutrot, andere hellgelb, braun oder ekelhaft grün, wieder
andere so klar wie Wasser, spürte Laurie, wie eine nie erlebte
Erschöpfung sie befiel. Ihr Atem wurde ganz flach, ihr Herz
begann zu rasen, und die Haut überzog sich mit eiskaltem
Schweiß. Sie spürte, dass jeder Muskel in ihrem Körper
erschlaffte, vor ihren Augen verschwamm alles, und die
Geräusche hörten sich auf einmal so gedämpft an, als hätte ihr
jemand Watte in die Ohren gestopft.
Eine eisige Kälte umhüllte sie und drang so tief in sie ein,
dass ihr jeder Knochen im Leib wehtat. Als die
Weitere Kostenlose Bücher