Mitternachtsstimmen
Jagdhund. Als merkte die Hündin, dass von
Caroline keine Gefahr drohte, ringelte sie sich wieder auf
Ryans Bettdecke ein. Caroline wollte gerade die Tür wieder
zuziehen und nach Laurie sehen, als Ryan sie plötzlich
ansprach.
»Mom?«
»Ja, mein Schatz? Alles in Ordnung?«
Eine Sekunde oder zwei verstrichen, dann sagte er: »Ich
habe sie wieder gehört, Mom. Die Geister – die Stimmen in
den Wänden. Ich habe sie flüstern hören.« Seine kleine
ängstliche Stimme zog Caroline sofort an sein Bett. Sie setzte
sich und nahm ihren Sohn in den Arm. »Ich habe Angst,
Mom«, flüsterte er.
»Ich weiß«, erwiderte Caroline und streichelte ihm über den
Kopf. »Aber es wird alles gut. Ich werde nicht zulassen, dass
euch irgendetwas zustößt, und morgen gehen wir weg von
hier.«
Ryan legte den Kopf in den Nacken und versuchte, im
düsteren Licht ihr Gesicht zu erkennen. »Versprochen?«,
wisperte er.
»Versprochen«, wiederholte Caroline und versuchte, ihre
Stimme zuversichtlich klingen zu lassen, obwohl in ihrem
Inneren ebenfalls die Angst regierte. »Jetzt schlaf wieder, mein
Schatz. Ich bin hier, und du brauchst keine Angst zu haben.«
Sie deckte ihn zu, gab ihm einen Kuss und Chloe einen
liebevollen Klaps und verließ das Zimmer.
Vor ihrem geistigen Auge erstand die Tür zu Lauries
Zimmer. Mit ihr ist alles in Ordnung, sagte sie zu sich. Sie
schläft tief und fest. Nichts ist passiert. Doch je näher sie
Lauries Zimmertür kam, desto leerer klangen diese Worte, und
als sie schließlich direkt davor stand, spürte sie etwas in dem
Zimmer dahinter.
Eine schreckliche Leere, die tief in ihr Innerstes eindrang
und ihre Seele traf.
Nein, dachte sie und sprach es unbewusst laut aus. Ihre
Finger griffen nach dem kalten Kristallknopf, drehten ihn.
Abgesperrt!
»Laurie?«, flüsterte sie mit banger Stimme. Dann noch
einmal, etwas lauter: »Laurie, alles in Ordnung?«
Stille!
Sie war dabei, den Namen ihrer Tochter herauszuschreien,
beherrschte sich aber noch rechtzeitig, denn das hätte nur dazu
geführt, dass Ryan aus seinem Zimmer gerannt wäre, noch
verängstigter als er ohnehin schon war.
Die Schlüssel! Der Schlüsselbund in ihrer Tasche – den sie
aus dem Laden mitgenommen hatte. Ganz sicher würde einer
von ihnen Lauries Tür aufsperren. Schon rannte sie den Flur
entlang zur Treppe, musste sich einen Moment an der Mauer
festhalten und tastete dann nach dem Lichtschalter für die
sechs Lampen, die den Treppenaufgang beleuchteten. Und da
war ihre Handtasche, stand direkt neben dem kleinen Tisch in
der Diele, wo sie sie abgestellt hatte. Sie rannte die Stufen
hinab, gerade so schnell, dass sie nicht stolperte, schob ihre
Hand in die Tasche, fand den Bund und machte kehrt.
Gleich darauf stand sie wieder vor Lauries Tür und probierte
mit zittrigen Fingern einen Schlüssel nach dem anderen. Kurz
bevor sie vor lauter Frust laut geschrien hätte, ließ sich ein
Schlüssel im Schloss umdrehen. Mit einer einzigen Bewegung
drehte Caroline den Türknopf, stieß die Tür auf und schaltete
das Licht an.
Leer!
Wie erstarrt stand sie da, den Blick auf Lauries Bett fixiert.
Das Laken war zerdrückt und die Decke zurückgeschlagen, so
als wäre es Laurie in der Nacht zu warm geworden. Doch in
dem Zimmer war es eher kühl.
Aber wenn Laurie aus dem Zimmer gegangen war, warum
hatte sie dann die Tür abgeschlossen?
Ihr Blick fiel auf den Kleiderschrank, dessen Türen weit
offen standen, dann auf das Fenster, das ebenfalls einen Spalt
geöffnet war.
Konnte es sein, dass Laurie durchs Fenster geklettert war?
Spontan lief sie zum Fenster, schaute hinaus und stellte fest,
dass das unmöglich war: unter Lauries Fenster zog sich nur ein
schmaler Sims entlang, auf dem zu balancieren nicht einmal
Ryan eingefallen wäre. Sie ging weiter zum Schrank; Lauries
Koffer lag in seinem Fach, ihre Kleider hingen vollzählig auf
den Bügeln.
Und die Schubladen ihrer Kommode waren voll.
Caroline verließ das Zimmer und rannte durch die obere
Etage, schaute in alle Zimmer und alle Bäder, ohne ihre
Tochter zu finden.
Oder ihren Mann.
Die Angst, die stetig in ihr anwuchs, seit sie vor ein paar
Minuten aufgewacht war, drohte sich zu schierer Panik zu
steigern, doch Caroline kämpfte entschlossen dagegen an,
rannte nochmals zur Treppe und hatte in weniger als einer
Minute sämtliche Zimmer in der unteren Etage durchsucht –
alle bis auf eines.
Tonys Arbeitszimmer, vor dessen verschlossener Tür sie
jetzt
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