Mitternachtsstimmen
Umgebung
immer mehr vor ihren Augen verschwamm, und sich die
Finsternis, die sie für den Vorboten des Todes hielt, immer
schwerer auf sie legte, vernahm sie plötzlich ein neues
Geräusch, undeutlich zunächst und dann immer lauter.
Seufzer.
Seufzer der Zufriedenheit, ausgestoßen von den altersschwachen Frauen, in die soeben Lauries Jugend floss.
Dann, als die Dunkelheit sie endgültig umfangen hatte,
verhallten die wohligen Seufzer.
Mit schwindendem Bewusstsein ergab Laurie sich der Kälte,
der Dunkelheit, der Stille.
32. Kapitel
Die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit verschwamm
derartig, dass Caroline, als sie in ihrem dunklen Schlafzimmer
die Augen aufschlug, nicht wusste, wo sie sich befand. War sie
gefangen in der schrecklichen Erkenntnis, die sich seit dem
Augenblick, als sie die Fotos ihrer Kinder in Tonys
Schreibtischschublade entdeckt hatte, immer mehr verdichtet
hatte, oder hatte sie sich in einem ebenso schrecklichen
Albtraum verloren?
Einen Moment lang – der eine Ewigkeit zu dauern schien –
war sie sich nicht sicher. Aber langsam, unendlich langsam
begann ihr Verstand wieder zu arbeiten, die Erinnerung sich zu
klären.
Die einzelnen Geschehnisse des Tages, zumindest diejenigen, an die sie sich erinnerte, kehrten zurück.
Natürlich war ihr seit dem Moment, als sie aus dem Schlaf
erwacht war – ausgelöst von irgendwelchen Drogen, die Dr.
Humphries ihr verabreicht hatte – klar, dass sie die Wohnung
hätte verlassen müssen. Aber sie schaffte es nicht. Sie fühlte
sich zu schwach und zu krank, um für Laurie, Ryan und sich
selbst ein paar Sachen zusammenzupacken. Sie würde bis
morgen warten.
Am besten, bis Tony die Wohnung verlassen hätte.
Und bis dahin so tun, als ob alles in Ordnung sei.
Irgendwie hatte sie den Abend überstanden. Die »Grippe«
hatte ihr dabei geholfen, denn Tony hatte ihre Schweigsamkeit
der Krankheit angelastet, anstatt ihrer Furcht und dem
Misstrauen, was die eigentlichen Gründe waren. Sie hatte sich
zeitig zu Bett begeben, aber nicht, um zu schlafen. In dieser
Nacht würde sie nicht schlafen, sondern hellwach im Dunkeln
liegen, aufmerksam auf jedes Geräusch lauschen und ihre
Kinder vor jedweder Gefahr beschützen, die sich in ihr Leben
geschlichen hatte.
Dem Mann lauschen, der neben ihr schlief, den sie geheiratet
und den sie noch vor wenigen Tagen geliebt hatte.
Er hatte ihr Pillen gegeben – winzige weiße Kügelchen, die
genauso aussahen wie die, die ihr Dr. Humphries verabreicht
hatte. Sie hatte ihn liebevoll angelächelt, ihm gedankt und so
getan, als würde sie sie mit dem Glas Wasser, das er ebenfalls
mitgebracht hatte, hinunterspülen. Doch in Wahrheit hatte sie
die Kügelchen in der Hand behalten und während sie mit der
linken Hand das Glas an die Lippen führte, unauffällig unter
ihrer Bettdecke verschwinden lassen. Nachdem sie Tony das
Glas zurückgereicht hatte, war sie wieder in ihre Kissen
gesunken und hatte sich dafür gerüstet, die kommenden
endlosen Nachtstunden hindurch zu lauschen und zu wachen.
Stattdessen hatte sie geschlafen.
Wie hatte das passieren können? Sie hatte schon den ganzen
Tag über geschlafen, und als sie ins Bett gegangen war, war sie
hellwach gewesen. Obwohl sie die Augen geschlossen hielt,
raste ihr Verstand, und ihr Gehör verfolgte jedes noch so kleine
Geräusch.
Sie hatte gehört, wie Tony ins Schlafzimmer gekommen war,
gespürt, wie er sich über sie beugte und ihr einen Kuss auf die
Wange hauchte.
Hatte ihn ins Bad gehen hören.
Zu Bett gehen.
Hatte gespürt, wie die Matratze leicht nachgab, als er sich
neben sie legte.
Hatte gehört, wie sein Atem in den langsamen Rhythmus des
tiefen Schlafs übergegangen war.
Jetzt richtete sie ihre Aufmerksamkeit erneut auf dieses
gleichmäßige Geräusch, um sich zu vergewissern, dass er noch
neben ihr lag und sich nicht hinaus in die Dunkelheit
geschlichen hatte, um …
… was zu tun?
Sie horchte – und hörte nichts.
Die Stille und die Leere des Zimmers, die sie spürte,
veranlassten sie sofort, das Licht anmachen.
Tonys Bettseite war leer.
Im nächsten Moment war sie auf den Beinen, warf sich den
Morgenmantel über und trat hinaus in den Flur.
Stille.
Die Kinder!
Sie lief zu Ryans Zimmer, horchte, machte die Tür auf und
spähte hinein. Durchs Fenster fiel so viel Licht, dass sie ihren
Sohn in seinem Bett liegen sehen konnte. Chloe stand auf dem
Bett, den Schwanz aufgerichtet und eine Pfote erhoben wie ein
aufmerksamer
Weitere Kostenlose Bücher