Mitternachtsstimmen
blieb, überzeugt, dass man
ihn entdeckt hatte. Doch dann vernahm er eine andere Stimme,
die ihm irgendwie bekannt vorkam.
»Ihre Frau war mit Andrea befreundet«, sagte die Stimme.
»Wir unterhalten uns routinemäßig mit jedem, der sie gekannt
hat. Ist Ihre Frau zu Hause?«
Wieder wagte Ryan nicht zu atmen, und diesmal presste er
das Ohr an die Mauer, obwohl das eigentlich nicht notwendig
gewesen wäre.
Und dann, ein paar Sekunden später, hörte er es: Das Biddle
Institut …. 82. Straße West.
Seine Mutter war nur ein paar Straßen weit weg! Wenn er
aus diesem Haus herauskäme, würde er zu ihr gehen, und dann
würde alles gut werden. Ganz bestimmt gab es einen Weg nach
draußen – er musste ihn nur finden. Doch gerade als er in die
Dunkelheit schlüpfen wollte, erhob sich wieder die Stimme
seines Stiefvaters.
»Wenn Sie keine weiteren Fragen mehr haben«, sagte
Anthony Fleming, »würde ich jetzt gern nach oben gehen und
nach meinem Sohn sehen. Er scheint eine Grippe
aufgeschnappt zu haben.«
Ryan erstarrte. Wenn sein Stiefvater das Zimmer leer
vorfände, und er nicht sofort einen Weg nach draußen
entdeckte –
Gefangen!
Er wäre gefangen, und es gäbe kein Entrinnen und –
Tausend Möglichkeiten schossen ihm durch den Kopf, was
Tony mit ihm anstellen würde, wenn er ihn zu fassen bekäme.
So schnell er konnte, rannte Ryan den Weg zurück und
versuchte dabei kein Geräusch zu machen. Und die ganze Zeit
über wiederholte er unermüdlich Namen und Adresse des
Krankenhauses, wobei er nicht weniger Angst hatte, sie zu
vergessen, als von seinem Stiefvater entdeckt zu werden. Biddle Institut … 82. Straße West … Biddle Institut … 82.
Straße West … Und dann, gerade als er die letzte Treppe
erreichte, fing das Licht seiner Taschenlampe an zu flackern.
Wie vom Teufel gejagt raste er die Stufen hinauf, warf sich auf
den Boden und kroch durch den niedrigen Zwischenraum
zwischen seiner Zimmerdecke und dem darüber liegenden
Stockwerk auf die Klapptür zu, aus der ein wenig Licht schien.
Als er schließlich das Regal in seinem Schrank erreicht hatte
und hinuntersprang, leuchtete der Glühfaden seiner
Taschenlampe nur noch ganz matt.
Wäre er in dem Gang geblieben, hätte er bald im Finsteren
gestanden.
Allein, in undurchdringlicher Dunkelheit verloren.
Aber er war nicht verloren, er war zurückgekehrt in sein
helles Zimmer, und er wusste, wo seine Mutter war.
Jetzt musste er nur noch den richtigen Zeitpunkt abwarten,
um sich aus der Wohnung zu stehlen. Doch zuerst musste er
seinen Stiefvater dazu bringen, dass er ihn aus seinem Zimmer
ließ, wenigstens für eine Weile.
Keine Minute später, als sein Stiefvater die Tür aufsperrte
und in sein Zimmer trat, schaute Ryan zerknirscht zu ihm auf.
»Verzeih mir«, sagte er. »Ich habe gestern Abend etwas
gesehen.« Tony sagte nichts, doch seine seltsam toten Augen
blieben auf Ryan fixiert. »Ich … ich bin aufgewacht, weil ich
etwas gehört habe, und bin hinaus in den Flur gegangen. Da
habe ich gehört, wie du gesagt hast, dass alles gut werden
würde. Aber ich wusste ja nicht, was passiert war, und habe
Angst gekriegt, und als du dann in mein Zimmer kamst, da
habe ich so getan, als ob ich schliefe.«
»Das ist alles, was du gehört hast?«, fragte Anthony
Fleming.
Ryan nickte und war sich ziemlich sicher, dass sein
Stiefvater ihm glaubte.
Kaum hatte Frank Oberholzer das Biddle Institut gefunden,
begann sein Magen schmerzhafte Warnsignale auszusenden.
Für ein Krankenhaus war das Gebäude recht klein, und
Oberholzer war überzeugt davon, dass das auch nicht seine
ursprüngliche Bestimmung gewesen war. Die braune
Klinkerfassade der Frontseite maß gut dreißig Meter in der
Länge, in der Mitte gab es eine Flügeltür, der einzige Zugang
zu dem Haus, abgesehen von einem kleinen
Lieferanteneingang an der Westseite des Gebäudes. Das
Erdgeschoss, das sich einige Schritte über dem Niveau des
Gehsteigs befand, besaß acht große Bogenfenster, jeweils vier
zu beiden Seiten des Eingangs. Über dem Erdgeschoss erhoben
sich vier weitere Stockwerke, das Zweite und Dritte bewehrt
mit verzierten Steinsäulen, die von den acht Bogenfenstern
ausgingen und eine Terrasse trugen, die sich über die gesamte
vierte Etage erstreckte. Bis zu diesem Morgen hatte Oberholzer
das Gebäude für ein Privathaus gehalten, das von irgendeiner
Stiftung oder einem Konsulat genutzt wurde. Den einzigen
Hinweis auf das Biddle Institut fand
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