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Mitternachtsstimmen

Mitternachtsstimmen

Titel: Mitternachtsstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Saul
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mit zitternden
Fingern das Tuch gerade so weit hoch, damit er sehen konnte,
was darunter war.
Eine Leiche, die Haut so grau wie das trübe Licht.
Laurie!
Der Gedanke explodierte in Ryans Kopf, und abermals
drängte es ihn, sich umzudrehen und in die Dunkelheit zu
flüchten. Und abermals gewann der andere Teil von ihm die
Oberhand – der, der wissen wollte.
Er schlug das Tuch ganz zurück, schaltete seine Lampe an
und richtete den Lichtkegel auf den Leichnam.
Oder auf das, was davon noch übrig war.
Der Leib war aufgeschnitten, und in der leeren Bauchhöhle,
die einst die lebenswichtigen Organe beherbergt hatte,
ringelten sich jetzt fette weiße Maden, die ihre Mahlzeit an
dem verfaulten Fleisch nur deshalb beendeten, um dem hellen
Lichtschein zu entfliehen. Ryan ignorierte die Übelkeit, die
ihm die Kehle hochstieg, richtete den Lichtstrahl auf das
Gesicht – und starrte in leere Augenhöhlen.
Aber das übrige Gesicht kam ihm bekannt vor, und auch
ohne die Augen erkannte er Rebecca Mayhew auf Anhieb.
Heiße Tränen schossen ihm in die Augen, doch sein Herz
klopfte nicht mehr ganz so laut, als ihm klar wurde, dass es
wenigstens nicht seine Schwester war. Er schlug das Tuch
wieder über Rebeccas verwüsteten Leichnam und ging langsam
weiter.
Und traf auf eine weitere Bahre.
Der Körper, der auf dieser lag, war nicht ganz zugedeckt –
der Kopf schaute raus, und als Ryan die Lampe auf das Gesicht
richtete, erkannte er, dass es zu einem Jungen gehörte, nur
wenig älter als er selbst. Die Augen, die tief in den Höhlen
lagen, blinzelten in den Lichtschein.
Ryan zuckte zusammen, dann erstarrte er.
Die Lippen des Jungen bewegten sich, doch er brachte
keinen Laut zustande.
Verunsichert legte Ryan dem Jungen ganz vorsichtig die
Hand auf die Stirn. »Es wird alles gut«, wisperte er. »Ich … ich
hole dich hier raus.«
Doch Ryan merkte selbst, wie hohl seine Worte klangen, und
war sich sicher, dass der Junge – wer immer er sein mochte –
ihm auch nicht glaubte.
Und plötzlich hörte er aus dem grauen Zwielicht ein anderes
Geräusch. Es war ein bisschen lauter als das, das er als erstes
gehört hatte, als er seine Taschenlampe angemacht hatte, und
jetzt wusste er, was es war: eine Stimme, ganz leise und
schwach. Kaum wahrnehmbar. Aber dann hörte er sie wieder.
»M-mom?«
Jetzt raste sein Herz. Hektisch leuchtete er in dem düsteren
Raum herum. Dann sah er sie.
Da stand noch eine Krankenbahre, doch die hatte eine andere
Form und war fast ganz von einem Laken bedeckt. Und auf
dieser Bahre lag jemand, und obwohl die Stimme kaum hörbar
gewesen war, glaubte er, sie erkannt zu haben.
Er rannte darauf zu und keine Sekunde später leuchtete er
mit seiner Taschenlampe in ein Gesicht.
Lauries Gesicht.
»N-nicht –«, stammelte sie und versuchte, ihre Augen von
dem grellen Licht wegzudrehen. »B-bitte nicht –«
Ryan richtete den Strahl zur Seite. »Ich bin’s!«, flüsterte er
so laut wie er sich traute.
Einen Moment lang reagierte Laurie überhaupt nicht, doch
dann wandte sie ganz langsam ihren Kopf zu ihm um. Ihre
Lippen fingen an sich zu bewegen, und dann kamen Worte
heraus, schleppend und sehr schwach.
»Suche Mom«, wisperte sie. »Du musst sie finden, Ryan.
Wenn nicht, werde ich sterben.«
Die Nacht lag wie ein Leichentuch über der Stadt, und als Ryan
an seinem Fenster stand und in den Park schaute, fiel ihm als
Erstes ein, was mit seinem Vater dort passiert war. Seit jenem
Abend hatte Ryan nicht einmal daran zu denken gewagt, nach
Einbruch der Dunkelheit allein auf die Straße zu gehen, aus
Angst, ihm könnte das Gleiche zustoßen wie seinem Vater.
Aber heute Abend blieb ihm keine andere Wahl.
Er hatte gleich nachdem er Laurie entdeckt hatte, aufbrechen
wollen – eigentlich hatte er Laurie mitnehmen wollen. Aber sie
war so schwach, dass sie kaum reden konnte, ganz zu
schweigen davon, von der Pritsche zu steigen und ihm durch
die Gänge zu folgen.
Ja, aber wohin?
Das war die Frage – selbst wenn Laurie kräftiger gewesen
wäre, hätte er gar nicht gewusst, wohin er sie hätte bringen
sollen.
Er wusste ja nicht einmal, wie er aus diesem verfluchten
Haus herauskäme. Und auch nicht, ob er überhaupt herauskäme.
Nachdem er eingesehen hatte, dass Laurie es nicht einmal bis
zur ersten Treppe schaffen würde, wollte er bei ihr bleiben,
aber sie ließ nicht locker. »Du musst einen Weg nach draußen
finden – und du musst Mom finden. Wenn du sie nicht

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