Mitternachtsstimmen
findest…«
Ihre Stimme verhallte, doch sie musste den Satz nicht zu
Ende bringen, um sich Ryan verständlich zu machen.
Sie würden beide sterben, genau wie Rebecca.
So hatte er Laurie schließlich versprochen, einen Weg aus
dem Haus zu suchen, und sich dann aufgemacht, um
festzustellen, ob er sein Versprechen halten könnte. Als Erstes
hatte er es an der Tür am Ende dieses Gangs versucht, die er
von der letzten Treppe aus gesehen hatte. Ganz langsam,
Schritt für Schritt hatte er sich herangearbeitet, immer wieder
gelauscht, ob jemand käme, denn je näher er dieser Tür kam,
desto weiter entfernte er sich von der Treppe, die sein einziger
Fluchtweg war. Aber es war still geblieben, und schließlich
erreichte er die Tür und drehte am Knauf.
Abgesperrt.
Abgesperrt, und es gab kein Schlüsselloch.
Er hatte jeden Zentimeter dieser Tür untersucht, zwei
kostbare Batterien verbraucht, um herauszufinden, ob sich die
Tür irgendwie anderweitig öffnen ließe, doch außer dem
Türknauf konnte er an dieser Seite der Tür nichts entdecken.
Keine Scharniere, aus denen er die Nägel hätte herausziehen
können, oder eine Stelle, wo sich ein Brecheisen hätte ansetzen
lassen, wenn er ein solches gefunden hätte. Als die Batterien
schwächer wurden, und er sah, wie spät es war, ließ er von der
Tür ab, doch anstatt auf schnellstem Weg in sein Zimmer
zurückzulaufen, erkundete er auf dem Rückweg noch so viele
Gänge wie möglich.
Ohne einen Weg nach draußen zu finden.
Im ersten Stock gab es nur einen schmalen Gang mit nur
einer Tür. Zumindest glaubte er, dass es eine Tür war. Sie hatte
keinen Knauf, keine Klinke und kein Schloss, aber es kam
Ryan so vor, als ließe sie sich zur Seite schieben, wenn er nur
herausfände wie. Doch als ein weiteres Batteriepaar beinahe
aufgebraucht war, gab Ryan die Suche nach einem Öffnungsmechanismus auf, weil er wusste, er würde nie mehr in sein
Zimmer zurückfinden, wenn die Taschenlampe ausginge.
Er hatte nicht mehr genug Zeit, all die Gänge in den oberen
Stockwerken zu erforschen, und als er wieder in seinem
Schrank landete, hatte er nur noch zwei volle Batterien übrig.
Er war noch keine fünf Minuten in seinem Zimmer, da
drehte sich ein Schlüssel im Türschloss. Sein Stiefvater stand
da und starrte ihn mit seinen toten Augen an. »Du wirst dich
auf der Stelle bei Miss Shackleforth entschuldigen.«
Ryan tat, wie ihm geheißen, und gab sich alle Mühe, seine
Miene so aussehen zu lassen, als täte es ihm wirklich Leid,
dass er sich so danebenbenommen hatte.
Er stand das Abendessen durch, zwang sich etwas zu essen
und tat so, als glaubte er die Geschichte seines Stiefvaters, dass
Laurie bei einer Freundin übernachtete.
Er fragte auch nicht, bei wem; gab stattdessen vor, dass es
ihn gar nicht interessierte.
Um acht Uhr erklärte er, dass er müde sei und früh zu Bett
gehen wolle, und als Tony kam, um ihn zuzudecken, wehrte er
sich nicht. Und er fragte ihn, ob er am nächsten Tag seine
Mutter im Krankenhaus besuchen könne.
»Mal sehen«, antwortete Tony. Dann ging er, machte die Tür
zu und schloss sie, wie Ryan gehofft hatte, ab.
Jetzt starrte Ryan hinaus in die Nacht, und der Mut, den er
sich den ganzen Abend über antrainiert hatte, begann ihn
langsam zu verlassen. Nach einem letzten Blick aus dem
Fenster klopfte er auf die Batterien in seiner Jackentasche,
versicherte sich, dass er die Schlüssel, den schwarzen Wäschestift und sein Taschenmesser bei sich hatte und stopfte ein paar
Kissen unter die Bettdecke, für den Fall, dass Tony noch
einmal nach ihm sah. Nachdem er alle Lichter gelöscht hatte,
ging er in den Schrank und kletterte noch einmal das Regal
hinauf. Dann schlüpfte er durch die Klapptür und machte sie
hinter sich zu.
Um Batterien zu sparen, tastete er sich durch die Gänge, die
ihm inzwischen vertraut waren, und arbeitete sich diesmal nach
oben vor. Die meisten der Nebengänge ignorierte er und
verfolgte sie nur so weit, bis er wusste, dass von dort keine
andere Treppe weiter nach oben führte, denn heute Nacht hatte
er nur ein Ziel.
Einen Weg nach draußen zu finden.
Und wenn es keinen Weg durch den Keller oder den ersten
Stock gab, blieb nur noch – das Dach.
Er hatte die neunte Etage erreicht – die oberste, davon war er
überzeugt. Die letzte Treppe erschien ihm länger als all die
anderen, und als er die oberste Stufe erklommen hatte, führte
der Gang nur etwa zwanzig Schritte weit, ehe er in
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