Mitternachtsstimmen
Seitenteile der Leiter beinahe ganz
verdeckt hatten.
Er befand sich jetzt im Speicher des Rockwell, und als er mit
der Taschenlampe herumleuchtete, sah er eine weitere Tür.
Eine Tür, die hinaus aufs Dach führte.
Auf der Schwelle blieb er kurz stehen, sog die kühle
Abendluft tief in seine Lungen. Der Himmel über ihm war
sternenklar, und der Mond beinahe voll. Jetzt konnte er die
Taschenlampe ausschalten, schob sie in die Jackentasche und
trat hinaus auf die schmale Planke, die zwischen den beiden
steilen Dachfirsten, um einen der Türme herum und schließlich
zu dem niedrigen Wall verlief, der sich um das ganze Gebäude
zog.
Langsam arbeitete er sich voran, immer auf der Suche nach
einer Feuertreppe.
Und fand keine.
Jede der vier Feuertreppen des Gebäudes ging vom achten
Stockwerk aus, zwei Stockwerke unter Ryan.
Es gab keine Leitern, keine Rohre, nicht einmal einen
Mauervorsprung, auf den er hätte kriechen können.
Noch einmal ging er um das ganze Gebäude herum, und als
er zur Westseite kam, da fiel ihm plötzlich etwas auf.
Auf dem Nachbargebäude begannen die Feuertreppen oben
auf dem Dach und führten hinunter bis in die zweite Etage.
Aber das Dach des Nachbarhauses war um ein Stockwerk
niedriger als das Rockwell, und dort, wo die Feuertreppe am
Haus gegenüber begann, war das Rockwell-Dach so steil, dass
Ryan sich nicht einmal auf dem Bauch kriechend darauf
gewagt hätte. Ein paar Meter weiter links gab es jedoch eine
ebene Fläche, ehe man zur Eckkuppel kam.
Die Kluft zwischen den beiden Gebäuden betrug mindestens
dreieinhalb Meter.
Das würde er nie schaffen.
Er würde zwischen den beiden Häusern in die Tiefe stürzen,
unten auf dem Asphalt aufschlagen und –
Plötzlich war ihm, als zöge die Kluft ihn an, und ihm wurde
ganz schwindlig im Kopf. Er trat ein paar Schritte zurück, bis
das unangenehme Gefühl nachließ.
Dann trat er noch einmal vor und besah sich den Abstand
zwischen den beiden Häusern genauer.
Vielleicht waren es gar keine dreieinhalb Meter – sondern
nur knapp drei.
Letztes Schuljahr hatte er beim Weitsprung mit Anlauf zwei
Meter siebzig geschafft. Und nachdem das andere Dach tiefer
lag, würde er sicherlich ein Stück weiter kommen.
Oder doch nicht?
Noch einmal warf er einen Blick nach unten, aber nur ganz
kurz, denn sofort wurde ihm wieder schwindlig.
Aber ihm blieb keine Wahl. Er musste es einfach versuchen
– oder aufgeben.
Rückwärts gehend, versuchte er genau abzumessen, wie
viele Schritte er brauchte, um den niedrigen Wall zu erreichen.
Wenn er ihn verfehlte …
Wenn er sich im Abstand der beiden Häuser geirrt hatte …
Wenn er stolperte …
Wenn …
Und während er die Kluft fixierte, hörte er wieder die
Stimme seines Vaters: Beiß die Zähne zusammen …
Kurz entschlossen pumpte Ryan Luft in seine Lungen und
rannte los.
Ein Schritt. Zwei Schritte. Drei Schritte.
Sein rechtes Bein griff weit aus, und sein Fuß fand den
Absprung von dem kleinen Mauerwall. Er warf die Arme
zurück, holte Schwung, katapultierte sich nach vorn und sein
linker Fuß streckte sich in die Luft.
Sein rechter Fuß löste sich vom Absprung. Er flog. Und die
Zeit schien stillzustehen, dehnte sich ins Unendliche …
Ich bin nicht verrückt. Ich leide nicht unter Verfolgungswahn
und bin auch nicht psychotisch. Es ist alles wahr. Es hört sich
völlig verzwickt an, paranoid, ist es aber nicht. Es ist alles
real. Diese Sätze waren Caroline zu einem Mantra geworden,
das sie sich im Stillen so oft vorgesagt hatte, dass die einzelnen
Worte eine mystische Qualität bekommen hatten. Obgleich sie
durch die ständige Wiederholung bedeutungslos geworden
waren, hatte sich der Rhythmus tief in ihre Seele eingebettet,
ein Anker, der ihren Verstand davor bewahrte, wegzudriften. Es ist alles wahr. Es ist alles wahr. Es ist alles wahr. Nicht
paranoid. Nicht paranoid. Nicht paranoid. Nicht verrückt.
Nicht verrückt. Nicht verrückt… Doch trotz der ständigen
Wiederholung dieser Sätze spürte sie, dass sie immer näher an
die Schwelle zum Wahnsinn trieb. Der gähnte vor ihr wie ein
bodenloser Abgrund, der sie so unaufhaltsam anzog wie ein
Balkongeländer im sechsten Stock einen, der an Höhenangst
leidet.
Die Sache war die, dass trotz des Mantras, an das sie sich
klammerte, ihre Erinnerungen mehr und mehr zu Spiegelbildern ihrer Einbildung oder ihrer Träume gerieten. Wie
konnte das auch alles wahr sein?
Tony konnte unmöglich tot sein.
Melanie Shackleforth
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