Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mitternachtsstimmen

Mitternachtsstimmen

Titel: Mitternachtsstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Saul
Vom Netzwerk:
konservativ waren wie die Ausstattung
seines Büros: altes Mahagoniholz, altes Leder, alte Stiche.
    Dinge, die dem Wandel der Zeiten widerstanden.
Doch an diesem Morgen ignorierte er das Wall Street
Journal, das exakt in der Mitte seines Schreibtischs lag, und
schob den Stapel mit den Investment Newsletters zur Seite.
Als er seinen Computer anschaltete, gönnte er den Kurven
der Aktienkurse nur einen flüchtigen Blick. Er loggte bei einer
Suchmaschine ein und tippte zwei Wörter:
Caroline Evans,
Und die Enter-Taste. Dann lehnte er sich zurück und wartete
ab, was, falls überhaupt, sich über die Frau in Erfahrung
bringen ließe, die er am Samstag im Park kennen gelernt hatte.
    Nach den Kindern zu sehen, die in Pflegefamilien untergebracht waren, war der schlimmste Teil ihres Jobs. Sie
wusste, dass das getan werden musste, und dass es Plätze gab,
wo die Kinder einfach nicht sicher waren. Das Problem bestand
darin, dass man das Bild, das sich einem bot, nie genau
einschätzen konnte. Vergangenes Jahr hatte sie einem Ehepaar
in Harlem ein Kind weggenommen, in der sicheren
Überzeugung, dass die Familie bereits viel zu zahlreich war.
Da der Vater gerade seinen Job verloren hatte, und neben den
zwei eigenen Kindern noch zwei Nichten und einen Neffen
durchfütterte, hatte Andrea befunden, dass das Pflegekind – ein
achtjähriges Mädchen mit Lernbehinderung, das in der
Vergangenheit misshandelt worden war – einfach zu viel für
diese Familie sei. Besonders die Frau hatte sie angefleht, das
Mädchen bei ihnen zu lassen, doch Andrea hatte sich nicht
erweichen lassen. Zumal sie bereits eine viel bessere
Unterkunft für die Kleine gefunden hatte – ein Ehepaar von der
Upper West Side, die dem Kind nicht nur viel mehr
individuelle Aufmerksamkeit, sondern auch ein eigenes
Zimmer bieten konnten.
    Ein Zimmer, in das der Pflegevater sich schon in der
allerersten Nacht geschlichen hatte, sobald seine Frau zu Bett
gegangen war. Als Andrea zwei Monate später den ersten
Beurteilungsbesuch machte, hatte sich die Kleine in ein nahezu
katatonisches Schweigen zurückgezogen, dessen Ursache ein
Kinderfacharzt in fünf Minuten diagnostiziert hatte.
    Als Andrea die Pflegemutter gefragt hatte, warum sie das
Mädchen nicht schon früher zu einem Arzt gebracht habe,
erhielt sie zur Antwort, dass der Ehemann – ein Kinderpsychologe – ihr erklärt habe, dass so ein Verhalten ganz
normal sei, da sich die Kleine erst eingewöhnen müsse. Das
Mädchen wurde ins Bellevue Hospital eingewiesen – und da
war sie heute noch – und Andrea hätte beinahe ihren Job bei
der Kinder- und Jugendfürsorge gekündigt. Ihr Supervisor
brauchte eine ganze Woche, um ihr einzubläuen, dass jeder
andere den gleichen Fehler gemacht hätte, und dass sie sich
keine Vorwürfe zu machen brauchte, nicht machen dürfte. »Solche Dinge passieren«, hatte er gesagt. »Natürlich
wünschen wir, dass dem nicht so wäre, aber man ist nie davor
gefeit. Man kann immer nur sein Bestes geben. Und wenn Sie
jetzt das Handtuch schmeißen, dann habe ich eine gute Seele
weniger, die ein Auge auf die Kinder hat. Man wird diese
Stelle nämlich nicht neu besetzen – das nennt man
Kosteneinsparung durch Zermürbung.« Schlussendlich war sie
dann geblieben und besuchte seither die Kleine jedes
Wochenende im Bellevue, wissend, dass sie ihre Anwesenheit
gar nicht wahrnahm, doch sie betete, dass ihre Besuche die
Schrecken irgendwie sühnen würden, die die Kleine erfahren
musste. Doch mit jeder Woche schien der Job härter zu
werden, und an diesem Morgen war sie unterwegs zu einer
Wohnung, die ihr überhaupt nicht behagte.
    Blödsinn, schalt sie sich, als sie sich dem Haus mit der
Adresse 100 Central Park West näherte. Jeder andere in der
Stadt liebt dieses alte Gemäuer, an dem es nichts auszusetzen
gibt. Es ist ein altes New Yorker Wohnhaus mit langer
Tradition. Und genau da lag der Hund begraben. Andrea
mochte diese alten Traditionsbunker einfach nicht, nicht mit
den pfeifenden Heizkörpern, den tropfenden Wasserhähnen
und antiquierten elektrischen Leitungen. Andrea war in einem
hübschen Reihenhaus auf Long Island aufgewachsen, das
brandneu war, und ganz gleich, wie toll es die Leute fanden,
mitten in Manhattan zu wohnen, ihr heimlicher Wunsch war,
zu heiraten und wieder hinaus nach Long Island zu ziehen, wo
sie hingehörte. Doch bislang war dieser Wunsch nicht in
Erfüllung gegangen, und allmählich begann sie zu

Weitere Kostenlose Bücher