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Mitternachtsstimmen

Mitternachtsstimmen

Titel: Mitternachtsstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Saul
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befürchten,
dass das wahrscheinlich auch so bleiben werde. Die Statistik in
ihrer Altersgruppe war eindeutig gegen sie; aller Wahrscheinlichkeit war es ihr bestimmt, ihren Lebensabend als eine dieser
schrulligen alten Jungfern zu beschließen, die sich mit drei
Katzen eine winzige Wohnung teilten. Doch bis es so weit war,
wollte sie so vielen Kindern wie möglich helfen. Mit einem
leisen Seufzer stieß sie die Tür auf, betrat das Vestibül und
drückte den Klingelknopf, der Rodney, den Portier, rufen
würde. Einen Moment später ging die Tür auf, und Rodney
neigte als Zeichen der Begrüßung den Kopf um einen
Millimeter.
»Die Albions erwarten Sie.«
    Andrea erwiderte die Andeutung eines Nickens und ging auf
den Fahrstuhl zu – ein schmiedeeiserner Käfig, der sie an einen
alten Film erinnerte, in dem Katherine Hepburn in so einem
Ding herabschwebte und man sie schon eine Weile reden hörte,
ehe sie endlich sichtbar wurde. Auf dem Weg hinauf in den
siebten Stock rüstete Andrea sich für die Begegnung mit den
Albions.
    Sie konnte das Ehepaar genauso wenig leiden wie das
Gebäude.
Alicia, dem Anschein nach in den frühen Vierzigern,
erwartete sie an der Tür. Als sie dieser Frau das erste Mal
gegenübergestanden hatte, regte sich in ihr eine schwache
Erinnerung, als hätte sie Mrs. Albion schon irgendwo einmal
gesehen, doch sie konnte sie beim besten Willen nicht
einordnen. Ein paar Tage später hatte sie sich durch einen
langweiligen Samstagabend gezappt und war auf die
Wiederholung einer uralten Familien-Sitcom aus den späten
fünfziger oder frühen sechziger Jahren gestoßen. Sie wollte
schon weiterdrücken, als ein plötzliches Deja-Vu sie innehalten
ließ. Es war nur ein ganz kurzes Erinnern, dem jedoch eine
seltsame Vertrautheit mit dieser Show folgte, so als hätte sie
erst vor ein oder zwei Tagen die letzte Folge gesehen. Und
dann machte es plötzlich klick bei ihr: Obwohl die
Schauspielerin, die die Mutter darstellte, äußerlich keinerlei
Ähnlichkeit mit Alicia Albion aufwies, war ihre Aufmachung
doch nahezu identisch. Die sorgfältig gezupften Augenbrauen,
das Make-up und die Frisur der Schauspielerin, ja sogar die
Kleidung erinnerten sie hundertprozentig an Alicia. Zunächst
hatte Andrea geglaubt, sie bilde sich das nur ein, doch bei
ihrem nächsten Besuch bei den Albions, um zu beurteilen, wie
Rebecca Mayhew sich bei dem Ehepaar eingelebt hatte, wusste
sie, dass sie sich das damals nicht eingebildet hatte. Alicia
Albion sah tatsächlich so aus, als wäre sie gerade dieser alten
Fernsehserie entstiegen.
Und es war nicht nur Alicia, die wirkte, als wäre sie in der
Vergangenheit stecken geblieben. Alles in dieser Wohnung
wirkte irgendwie betagt – die Möbel, die Tapeten, einfach alles
sah alt aus.
Nicht antik.
Nur alt.
Rebecca jedoch machte einen zufriedenen Eindruck, und
auch wenn Andrea sich in dieser Wohnung irgendwie unwohl
fühlte – nein, wenn sie ehrlich war, gruselte es sie schier –,
konnte sie nichts Negatives an dem Verhältnis zwischen Alicia
und Max und dem Mädchen feststellen. Als sie heute Morgen
angerufen hatte, wollte sie eigentlich nur einen Besuchstermin
für den nächsten Monat vereinbaren. Doch als sie erfuhr, dass
Rebecca an dem Tag nicht zur Schule gegangen war, hatte sie
sich spontan entschlossen, kurz bei den Albions vorbeizuschauen, um sich zu vergewissern, dass es wirklich nur ein
harmloser Virus war, der Rebecca zu Hause hielt.
Alicia Albion machte einen sehr besorgten Eindruck, als sie
Andrea Costanza die Tür öffnete. Besorgt und erschöpft.
»Ich fürchte, ich bin etwas übervorsichtig mit Rebecca«,
sagte sie in leicht gereiztem Ton, während sie nervös ihre ein
wenig geschwollenen Finger rieb. »Meine Arthritis«, fuhr sie
fort, als sie Andreas Blick auf ihre Hände bemerkte. »Meistens
verschont sie mich ja, aber an manchen Tagen …« Ihre Stimme
verlor sich, und sie tat das Thema mit einem Achselzucken ab,
als lohnte es nicht, darüber zu reden. »Rebecca wollte zur
Schule gehen, aber wir haben sie zu Hause behalten. Sie ist
noch im Bett; ich koche ihr gerade eine Suppe.«
Jetzt erst bemerkte Andrea den Geruch, der aus der Küche
drang. Es war ein seltsamer Geruch, irgendwie bitter und so
ganz anders als die Hühnersuppe, die ihre Mutter immer
gekocht hatte, und nach deren Kräutern und Gewürzen das
ganze Haus geduftet hatte. Alicia Albions Suppe roch fast wie
Medizin und beschwor die Erinnerung

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