Mitternachtsstimmen
an diese lauwarme
graue Brühe herauf, die Andrea vorgesetzt bekam, als man ihr
als Zehnjährige den Blinddarm herausgenommen hatte. Die
Suppe hatte so schrecklich geschmeckt, dass ihr Magen selbst
heute noch allein bei dem Gedanken daran rebellierte. »Darf
ich zu ihr gehen?«, fragte sie und verkniff sich jeglichen
Kommentar zu dem abartigen Geruch, der aus der Küche kam.
»Aber bitte«, sagte Alicia. »Sie hat Sie sehr gern.«
Sobald Alicia in der Küche verschwunden war, ging Andrea
durch den Flur in das große Eckzimmer, das Rebeccas
Schlafzimmer war. Rebecca saß im Bett, an ein paar Kissen
gelehnt, und obwohl sie ein wenig blass war, strahlte sie, als sie
Andrea sah. »Sie sind gekommen!«, sagte sie.
»Warum sollte ich nicht?«, gab Andrea zurück. »Als ich
hörte, dass du krank bist, hätten mich keine zehn bissigen
Hunde davon abhalten können, dich zu besuchen.«
»Ich bin nicht richtig krank«, versicherte Rebecca ihr. Am
Samstag fühlte ich mich viel schlechter, und morgen gehe ich
wieder zur Schule.«
»Wenn Dr. Humphries es erlaubt«, erklärte Alicia, die
soeben mit einem weißen Tablett hereinkam, auf dem eine
Schüssel Suppe dampfte. Behutsam stellte sie es vor Rebecca
auf ein kleines Betttischchen und band ihr eine weiße
Stoffserviette um. »Verbrenn dir nicht die Zunge«, mahnte sie.
»Sie ist heiß.«
Rebecca tauchte den Löffel in die Suppe – die tatsächlich
genauso dünn und farblos war wie jene, die Andrea damals im
Krankenhaus vorgesetzt bekommen hatte – blies kurz darüber
und schlürfte den Löffel dann geräuschvoll leer. Wenn die
Brühe so schmeckte wie sie aussah, dann musste sie Rebecca
wirklich für ihre gelassene Miene bewundern. »Möchten Sie
mal kosten?«, fragte das kleine Mädchen.
»Die habe ich doch für dich gekocht«, protestierte Alicia.
»Könnte Andrea nicht mal probieren?«, bettelte sie.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie das möchte!«
Rebecca drehte sich wieder zu Andrea um. »Sagen Sie ihr,
dass Sie einen Teller Suppe möchten. Sie ist wirklich gut.«
Während des kurzen Austauschs hatte Andrea das kleine
Mädchen und deren Pflegemutter sehr genau beobachtet und
ihnen zugehört und war zu dem Schluss gekommen, dass in
diesem Haushalt eigentlich alles stimmte.
Rebecca hatte eine Erkältung.
Alicia Albion kümmerte sich um sie.
Beide schienen im Umgang miteinander absolut entspannt zu
sein.
Warum hielt sich bei ihr dennoch das hartnäckige Gefühl,
dass hier etwas nicht stimmte?
Sie blieb noch eine halbe Stunde, überwand sich sogar dazu,
die Suppe zu kosten, die, wie sie sich einredete, gar nicht so
schlecht sein konnte, nachdem die Kleine sie hinunterschlürfte,
als wäre es das Köstlichste, was sie je gegessen hatte.
Abgesehen von der Suppe, die anscheinend nur für Andrea
selbst ein Problem darstellte, konnte sie tatsächlich nichts
entdecken, was irgendwie zur Klage Anlass gegeben hätte, und
gegen zehn verabschiedete sie sich schließlich.
Das bin nur ich, sagte sie sich auf dem Weg zum Fahrstuhl. Ich und dieses gruselige Gebäude. Und als sie gerade in die
Kabine steigen wollte, erschien ein Mann auf dem
Treppenabsatz. Er war um die sechzig, groß, mit dichtem
grauen Haar, das ein zerfurchtes, aber nicht unattraktives
Gesicht umrahmte. Er trug einen schwarzen Anzug und hatte
eine altmodische Arzttasche in der Hand. In dem Blick, mit
dem er sie kurz streifte, glaubte Andrea etwas gesehen zu
haben.
Überraschung?
Unsicherheit?
Oder Feindseligkeit?
Der kurze Moment ging so rasch vorüber, dass sie nicht
sicher war, ob sie sich nicht getäuscht hatte. Wenig später
klopfte er an der Tür 7-C.
»Dr. Humphries!«, hörte sie Alicia Albion ihn begrüßen.
»Danke, dass Sie gekommen sind. Rebecca ist auf ihrem
Zimmer.« Jetzt drückte Andrea den Knopf, um hinunterzufahren, und kurz bevor sich der Fahrstuhl in Bewegung
setzte, sah sie, dass der schwarz gekleidete Mann sich
umdrehte und sie noch einmal ansah. Diesmal wusste sie
genau, was sie gesehen hatte.
Es war Feindseligkeit, ganz ohne Zweifel. Und das von
einem Mann – offenbar einem Arzt – den sie noch nie zuvor
gesehen hatte.
Obwohl er inzwischen seit beinahe vier Monaten die Columbus
Middle School besuchte, hatte sich Ryan immer noch nicht
eingewöhnt. »Es wird dir gefallen«, hatte seine Mutter ihm
versprochen, als sie ihm eröffnete, dass er nicht mehr auf die
Elliott gehen würde. »Du wirst schon sehen – es wird dir dort
gefallen.«
Aber
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