Mitternachtsstimmen
es gefiel ihm dort nicht.
Überhaupt nicht.
Am ersten Tag, als er das Klassenzimmer betrat, hatten ihn
alle angestarrt, als wäre er ein Außerirdischer oder so was.
Aber das war nicht alles. Viele der Kinder – Mädchen und
Jungen – schauten ihn an, als wären sie sauer auf ihn, dabei
kannten sie ihn doch gar nicht. Und in der allerersten Pause
fand er auch gleich heraus, warum. Der Lehrer hatte den
anderen Kindern erzählt, von welcher Schule er kam. Eine
Woche zuvor, als er mit ein paar Freunden von der Academy
nach Hause gegangen war, kam plötzlich ein Haufen Jungs aus
der öffentlichen Schule um die Ecke gebogen. Die fingen
sofort an, ihnen Unverschämtheiten zuzubrüllen, und waren
offensichtlich auf eine Prügelei aus. Doch Ryan und auch seine
anderen Freunde von der Academy hatten sich daran erinnert,
was ihr Lehrer ihnen eingeschärft hatte. »Beachtet sie einfach
nicht – diese Kinder kennen euch nicht und wollen eigentlich
auch nichts mit euch zu tun haben. Sie wollen sich nur mit
euch prügeln, und wenn ihr euch darauf einlasst, dann begebt
ihr euch damit auf deren Niveau. Erinnert euch, wer ihr seid,
und geht einfach weiter.« Nun fand er sich an seinem ersten
Tag an der Columbus School plötzlich mitten unter ihnen, ganz
auf sich allein gestellt, und konnte nicht einfach weitergehen.
Ein halbes Dutzend Jungs hatten sich im Kreis um ihn herum
aufgebaut und angefangen, ihn mit Schimpfnamen zu
bombardieren. Bei manchen Ausdrücken wusste er nicht
einmal, was sie bedeuteten, doch deswegen taten sie nicht
weniger weh. Anfangs hatte er noch versucht, sich genauso zu
verhalten, wie Mr. Fields von der Academy es ihm geraten
hatte, und einfach weiterzugehen. Doch jedes Mal, wenn er aus
dem Kreis zu entkommen versuchte, schubsten ihn seine
Klassenkameraden wieder zurück, und bei jedem Versuch
etwas brutaler, bis er schließlich beschloss, dass es sicherer
wäre, in der Mitte stehen zu bleiben und die Beschimpfungen
über sich ergehen zu lassen.
Jetzt, vier Monate später, hatte sich nicht viel geändert.
Einige seiner Klassenkameraden ärgerten ihn zwar nicht mehr
jeden Tag, doch die Jungs aus der nächst höheren Klasse hatten
ein Spiel erfunden, das sie »Greinender Ryan« nannten, und in
dem derjenige Sieger war, der Ryan als Erster zum Heulen
brachte. Ryan war klug genug, seinen Lehrern nichts von
diesem Spiel zu erzählen, denn er wusste, dass es nur zwei
Möglichkeiten gab: Im besten Fall würden die Lehrer ihm
raten, sich zu wehren, und im schlimmsten Fall würden ihn die
Jungs nach der Schule vermöbeln, weil er sie verpetzt hatte. So
beschloss er, die Demütigungen in der Hoffnung auszuhalten,
dass das Spiel sie langweilen würde, wenn er sich nicht zum
Weinen bringen ließe. Doch als er auf ihre Beschimpfungen
nicht reagierte, hatten sie begonnen, ihn zu schlagen, und da
war er dann sehr bald zu dem Entschluss gekommen, dass es
klüger sei zu heulen, um es hinter sich zu bringen.
Als er jetzt mit seiner braunen Papiertüte, die ein Erdnussbutterbrot, ein Honigsandwich, einen Apfel und einen kleinen
Karton warme Milch enthielt, den Speisesaal betrat, verspürte
er die ersten Vorboten einer unbekannten Angst. Die Mittagspause war der schlimmste Teil seines ersten Schultags hier
gewesen, als ein Schüler, den er noch nie gesehen hatte, ihm
seine Lunchtüte aus der Hand gerissen, den Inhalt auf den
Tisch geleert und unter sich und seinen Freunden aufgeteilt
hatte. In der zweiten Woche hatte Ryan gelernt, rechtzeitig
nach einem freien Tisch Ausschau zu halten, wo er allein sitzen
konnte – niemand hatte sich in der Anfangszeit zu ihm gesetzt
– und seine Brote so schnell wie möglich herunterzuschlingen,
damit sie ihm niemand wegnehmen konnte. Seit ein paar
Monaten nun saß er mit drei anderen Jungen aus seiner Klasse
zusammen am Tisch, die etwas freundlicher zu ihm waren, seit
sie herausgefunden hatten, dass er recht gut Fußball spielte.
Nun ja, als direkt freundlich konnte man sie nicht bezeichnen –
sie forderten ihn nicht auf, nach der Schule noch etwas zu
unternehmen, außer wenn ein Fußballspiel angesagt war – aber
zumindest versuchten sie nicht mehr, ihm sein Essen zu klauen.
Doch als er jetzt zwischen den anderen Tischen hindurch nach
hinten ging, wo die drei saßen, spürte er sofort, dass etwas
nicht stimmte.
Larry Bronski starrte ihn ein paar Sekunden lang an, dann
flüsterte er Jeff Wheeler und Joey Garcia etwas zu.
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