Mitternachtsstimmen
Als Ryan
dann am Tisch ankam, starrten sie ihn alle an, und als er sich
hinsetzte, redete keiner ein Wort mit ihm.
Die Angst drückte ihm auf den Magen und verursachte ihm
Übelkeit. »Was ist denn los?«, fragte er schließlich und sah die
Jungs der Reihe nach an. »Was habt ihr denn gegen mich?«
Jeff Wheeler verdrehte genervt die Augen. »Warum hockst
du dich nicht woanders hin, Blödmann?«
Ryan zuckte nicht einmal zusammen, nur seine Augen
wurden schmaler. »Wovon redet ihr denn? Was habe ich denn
verbrochen?«
»Wieso bist du am Samstag nicht aufgekreuzt«, wollte Larry
Bronski wissen.
»Zu was denn?« Ryan spielte den Ahnungslosen, obwohl er
ganz genau wusste, wovon Bronski sprach.
»Zum Fußballspielen, du Hornochse. Schon vergessen, dass
wir am Nachmittag spielen wollten? Aber du hast durch
Abwesenheit geglänzt, und deshalb hatten wir einen Mann zu
wenig.«
Ohne nachzudenken platzte Ryan mit der Wahrheit heraus:
»Meine Mutter musste arbeiten gehen und hat mir nicht
erlaubt, alleine in den Park zu gehen.« Zu spät wurde ihm sein
fataler Fehler bewusst, und als Jeff Wheelers Stimme nur eine
Sekunde später das allgemeine Gemurmel und Gelächter im
Speisesaal übertönte, glühte Ryans Gesicht bereits vor Scham.
»Deine Mammi hat es dir nicht erlaubt? Deine Mammi?
He!«, brüllte er jetzt jedem in Hörweite zu, und das waren alle
in dem plötzlich mucksmäuschenstillen Speisesaal. »Habt ihr
das gehört? Ryan die Heulsuse darf nicht mal allein in den
Park! Seine Mammi muss ihn an der Hand nehmen und
hinbringen!«
»Das habe ich nicht gesagt –«, begann Ryan, aber es war zu
spät.
»Was hast du dann gemeint?«, bohrte Larry Bronski weiter.
»Muss dich dann dein Kindermädchen hinbringen?« Blitzschnell schnappte er sich Ryans Lunchtüte und warf sie
jemandem am Nebentisch zu, doch als Ryan sie sich holen
wollte, flog sie über seinen Kopf hinweg zu einem anderen
Tisch.
Und in diesem Moment, nachdem er sich diese Beleidigungen, Pöbeleien und Tätlichkeiten vier lange Monate hatte
gefallen lassen, hatte Ryan die Nase voll. Er schwang zu Larry
Bronski herum, und seine Augen glühten vor Wut, als er ihn
am Hemd packte und über den Tisch zog. »Gib sie zurück!«,
brüllte Ryan. »Gib mir meine Tüte zurück, oder ich schlag dir
das Gesicht zu Brei!«
»Flossen weg«, schrie Larry. »Verdammt, was ist –«
Doch die restlichen Worte gingen in dem Gerangel unter,
nachdem drei Jungs vom Nachbartisch Ryan gepackt hatten,
von Larry wegzerrten und ihn zu Boden warfen. Im nächsten
Moment brüllte und schrie alles um ihn herum, und jemand trat
ihn mit dem Fuß in die Seite. Er versuchte seinen Kopf mit den
Armen zu schützen, als er eine andere Stimme hörte.
»Das reicht, meine Herrschaften!«, sagte ein Mann im
Befehlston, und während die Menge um ihn herum still wurde,
streckte sich ihm eine Hand entgegen, nahm ihn am Arm und
zog ihn auf die Füße. »So, wer möchte mir erklären, was hier
los war?«, fragte die Stimme.
Während Ryan sich noch mit dem Ärmel die blutende Nase
und die Tränen abwischte, hörte er einen der Jungen sagen:
»Evans hat angefangen! Hat plötzlich Bronski am Hemd
gepackt und ihn ohne jeden Grund angeschrien! Wir wollten
Bronski nur helfen!«
Fünf Minuten später, seine Nase blutete immer noch, fand
Ryan sich im Büro des Direktors wieder.
Und der Direktor rief seine Mutter an.
»Es ist für Sie, Caroline.«
Der Tonfall von Claires Stimme verriet Caroline, dass es
sich nicht um einen geschäftlichen Anruf handelte, und dass
Claire mit ihrer Geduld allmählich am Ende war. Das war jetzt
der dritte private Anruf für sie an diesem Vormittag. Der erste
kam von Visa, die wissen wollten, wann sie mit der Einzahlung
des monatlichen Minimalbetrags auf ihr ausgeschöpftes VisaKonto rechnen könnten; der zweite von ihrem Vermieter, der
ihr vorschlug, sich doch nach einer billigeren Bleibe
umzusehen, wenn sie die Miete nicht bezahlen könne. Und
wenn der Tonfall nicht ausgereicht hatte, um Caroline klar zu
machen, dass die dünne Eisschicht, auf der sie sich bewegte,
ziemlich schnell unter ihren Füßen schmolz, so machten
Claires Blick und ihre zusammengekniffenen Lippen, als sie
ihr das Telefon hinschob, die Botschaft nur zu deutlich.
Drei Minuten später, nach der Nachricht, dass Ryan sich in
der Pause geprügelt habe und sie umgehend in der Schule
erwartet würde, um ihren Sohn abzuholen und die Angelegenheit zu besprechen, hielt
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