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Mitternachtsstimmen

Mitternachtsstimmen

Titel: Mitternachtsstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Saul
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Caroline den Hörer noch eine ganze
Minute ans Ohr gepresst, nachdem der Direktor aufgelegt hatte. Keine Panik, ermahnte sie sich. Du machst das schon. Immer
eins nach dem anderen. Und das Wichtigste war Ryan. Der
Rest – das Geld für die Rechnungen und die Miete – musste
warten. Schließlich legte sie den Hörer auf, drehte sich zu
Claire Robinson um, die nur einen Meter von ihr entfernt stand
und den Rücken so angestrengt verbogen hatte, um mitzubekommen, was der Anrufer von Caroline gewollt hatte.
    »Ich muss mal schnell weg«, sagte sie. »Es wird sicher nicht
länger als eine Stunde dauern.« Sie zögerte kurz, beschloss
dann aber, dass sie es auch gleich sagen konnte. »Und wenn
ich zurückkomme, können wir dann über mein Gehalt
sprechen?«
    Claire Robinsons Miene verhärtete sich. »So ein Zufall, das
hatte ich ebenfalls vor. Ich denke, es ist an der Zeit, dass Sie
nur noch auf Kommissionsbasis arbeiten. Das wird Sie
motivieren, mehr zu verkaufen. Natürlich erhöht sich die
Kommission, nachdem dann das Fixum wegfällt.« Sie
unterbrach sich kurz, ehe sie fortfuhr: »Wenn es Ihnen
allerdings nicht möglich ist, die Arbeitszeit einzuhalten …« Sie
ließ die Bedeutung ihrer Worte im Raum hängen, die so
deutlich war, dass man sie Caroline nicht zu buchstabieren
brauchte.
    »Es tut mir Leid«, sagte Caroline kleinlaut. »Ich werde die
Stunden reinarbeiten. Ich werde –« Sie brach ab, als sie die
Verzweiflung in ihrer Stimme hörte. Sie holte tief Luft, brachte
ihre Gefühle wieder unter Kontrolle, und als sie weitersprach,
klang ihre Stimme ganz ruhig. »Bin in einer Stunde zurück.«
Sie schnappte sich ihre Handtasche und lief zur Tür, wo Kevin
Barnes ihr mit einem besorgten Blick den Weg verstellte.
    »Ist alles okay?«
Caroline hielt kurz inne, dann nickte sie. »Ja, alles bestens«,
antwortete sie. »Abgesehen von ein paar überfälligen
    Rechnungen, der Tatsache, dass mein Sohn mit blutender Nase
im Büro des Direktors sitzt und vielleicht von der Schule
geschmissen wird, und Claire mein Gehalt aussetzen will, aber
Mann, es könnte schlimmer kommen, oder?«
    Kevins Sorgenfalten auf der Stirn vertieften sich. »Caroline,
wenn ich dir irgendwie helfen kann –«
Sie schüttelte den Kopf. »Danke. Es ist einfach das Leben,
und damit muss ich fertig werden.« Sie lächelte und drückte
ihn rasch. »Aber danke für das Angebot.«

7. Kapitel
    Irene Delamond trat ans Schlafzimmerfenster, zog die
Vorhänge auf und wollte die Jalousien hochziehen, um die
Nachmittagssonne hereinzulassen.
    »Nicht, Irene«, rief Lavinia Delamond, die im Bett lag und
die Hände vors Gesicht schlug. »Ich will nicht, dass du mich so
siehst!«
    Ohne sich um die Worte ihrer Schwester zu kümmern, zog
Irene die Jalousien ganz auf. »So«, sagte sie. »Ist das nicht viel
besser?«
    »Nein«, jammerte Lavinia. »Das Licht tut meinen Augen
weh!«
»Du meinst wohl deiner Eitelkeit«, gab Irene ungerührt
zurück, beugte sich über das Bett und nahm ihr behutsam die
Hände vom Gesicht. Seit gestern schien Lavinia regelrecht zu
verfallen. Die Haut ihrer Hände fühlte sich trocken und wie
Papier an, und die Handrücken waren dunkel von
Leberflecken. Doch es war der Zustand ihres Gesichts, der
Irene am meisten Sorge bereitete. Früher einmal war Lavinia
Delamond von einer atemberaubenden Schönheit gewesen,
hatte Virginia Estherbrooks bei weitem übertroffen. Dabei fand
Irene, dass Virginia nicht einmal in der Blüte ihrer Jahre
besonders schön gewesen war. Es waren Virginias Talent und
ihr Stil gewesen, die sie zum Star gemacht hatten, nicht ihr
Aussehen. An der Schönheit gemessen, hätte Lavinia der Star
sein müssen. Doch an diesem Nachmittag erinnerte kaum noch
etwas an die junge Lavinia. Die Struktur des Gesichts hatte
sich freilich nicht verändert, doch die Züge verschwanden
unter den Falten von welker Haut, die von Tag zu Tag mehr zu
werden schienen. Auch im Bett trug sie diesen Turban, unter
dem sie ihr schütteres Haar zu verbergen suchte, doch während
der Nacht hatten sich ein paar dünne Strähnen darunter gelöst
und hingen nun schlaff über ihre linke Wange. Irene beugte
sich über ihre Schwester und steckte die Strähnen wieder unter
den Turban. »Vielleicht sollte ich Dr. Humphries rufen?«,
schlug sie vor.
Lavinia sank tiefer in ihre Kissen. »Nein!« Ihre Stimme
klang gereizt. »Ich will ihn nicht sehen!«
Irene legte ermahnend einen Finger an die

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