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Mitternachtsstimmen

Mitternachtsstimmen

Titel: Mitternachtsstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Saul
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genauso viel Probleme am Hals
wie ich, entschied sie und legte noch zwei Dollarscheine drauf,
die sie sich eigentlich gar nicht leisten konnte. Genauso stumm,
wie er ihr geholfen hatte, die Vase aus dem Auto zu tragen,
nahm er das Geld entgegen und fädelte sich wieder in den
Verkehr ein, während die nachmittäglichen Fußgänger an ihr
vorüber eilten.
Vor ihr erhob sich das Rockwell mit seiner verschnörkelten
Fassade, den Türmchen und Kuppeln, den Bogenfenstern und
Terrassen, und Caroline fragte sich unwillkürlich, was sich der
Architekt bei seinem Werk wohl gedacht hatte. Als eines der
ersten Wohnhäuser an der Avenue erbaut, die an der Westseite
des Central Park entlangführte, stand es in den Anfangsjahren
noch allein, erst zwischen Feldern und später inmitten des sich
rasch ausdehnenden Straßennetzes der Stadt. Niemand hatte je
den Architekturstil genau definieren können, doch Caroline
fand, dass der Mann, der dieses Gebäude »Der Große Alte
Bastard von Central Park West« getauft hatte, gar nicht so weit
daneben lag. Dieses Gebäude vereinigte Elemente nahezu
sämtlicher Baustile in sich, zumindest der des neunzehnten
Jahrhunderts. Die höchsten Türme und Brüstungen lehnten sich
an die Gotik an, doch es gab auch ein vergoldetes Minarett, das
über der Ecke 70. Straße prangte und aussah, als stammte es
direkt von St. Basilius in Moskau. Unterhalb der
Mauertürmchen, Brüstungen und dem Minarett zeigte sich eine
erstaunliche Mischung aus den verschiedensten Baustilen,
darunter normannische, elisabethanische und auch mediterrane
Elemente, besonders bei den Terrassen, die auf den Park
hinausgingen. Das ganze Bauwerk erinnerte an ein Märchenschloss, das irgendwie mitten in eine der größten Städte der
Welt gelangt war und sich trotz seiner Scheußlichkeit nicht nur
zu einer der vornehmsten Adressen in New York gemausert
hatte, sondern auch zu einer unerschöpflichen Quelle von
Geschichten, die sich die Kinder zuflüsterten und dabei
schrecklich gruselten.
Jetzt stand sie hier vor dieser riesigen Flügeltür, deren mit
üppigen Gravuren verzierten Bleiglasfenster in einem Rahmen
aus Eichenholz steckten, das mittlerweile so grau geworden
war wie der Asphalt auf dem Gehsteig davor. Als Caroline sie
andächtig beäugte und sich fragte, wie schwer sie wohl sein
mochten – und ob sie einen der beiden Flügel wohl so lange
offen halten könnte, um das Ungetüm von Vase
hineinzubugsieren, hörte sie eine Stimme sagen:
»Gütiger Himmel, ich glaube, ich rieche eine
Verschwörung.«
Caroline drehte sich um. Hinter ihr stand ein Mann, der ihr
bekannt vorkam und sie mit schräg gelegtem Kopf und einem
amüsierten Lächeln ansah. Der Blick seiner zwinkernden
Augen wanderte von Caroline zu der Vase.
»Ich vermute, Sie liefern dieses –« Er zögerte und zuckte
dann Hilfe suchend die Achseln. »Was immer es auch sein mag
zu Irene Delamond?«
Sobald er Irenes Namen ausgesprochen hatte, erinnerte
Caroline sich wieder daran, wo sie den Mann schon einmal
gesehen hatte, und im selben Moment fiel ihr auch sein Name
wieder ein.
»Anthony Fleming«, sagte sie. »Aber ich verstehe nicht, was
Sie eben meinten. Ich liefere etwas zu Irene Delamond, aber
ich sehe da keinen Zusammenhang mit einer Verschwörung.«
Anthony Flemings Lächeln wuchs in die Breite, als er eine
der wuchtigen Türflügel aufzog. »Halten Sie die, dann trage
ich das Dinge für Sie herein.« Er hob die Vase auf und
schleppte sie ins Vestibül, wo eine zweite Flügeltür aus Glas –
nicht ganz so sehr verziert wie die äußere – den Weg in die
Halle versperrte. »Und bitte, nennen Sie mich nicht Anthony«,
bat er sie beinahe flehend. »So nennt mich jeder hier im Haus,
und das kann ich nicht leiden. Tony genügt, wenn es Ihnen
recht ist.« Er gab dem Portier ein Zeichen, der sogleich aus
seiner Loge trat und auf sie zueilte. »Und was diese
Verschwörung anbelangt, so hat mich Irene angewiesen, Punkt
halb sechs hier zu sein, und zwar in einem Tonfall, als ginge es
um Leben oder Tod.«
Plötzlich dämmerte es Caroline. »Sie hat in dem Geschäft, in
dem ich arbeite, eine Nachricht für mich hinterlassen, ihr diese
Vase um halb sechs zu liefern. Und meine Chefin riet mir
angesichts der Adresse, auf die Minute pünktlich zu sein.«
»Oh, ja«, pflichtete Anthony ihr bei, als der ältliche Portier
in einem braunen Blazer mit goldenen Epauletten die innere
Tür aufzog. »Wir Bewohner des

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