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Mitternachtsstimmen

Mitternachtsstimmen

Titel: Mitternachtsstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Saul
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schrumpeligen
Lippen ihrer Schwester. »Aber Lavinia, du hast Theodore doch
immer gemocht, und es ist ganz unwichtig, wie du aussiehst.«
Lavinia zog eine Schnute. »Ich will ihn nicht sehen.
Außerdem ist es ohnehin zu spät – das spüre ich.«
»Bitte, sag so was nicht.«
»Aber es ist die Wahrheit«, beharrte Lavinia eigensinnig. Sie
hob den linken Arm und machte damit eine schwache,
ausholende Bewegung. Ihre faltigen Finger zitterten. »Sieh
doch selbst. Ich bin genauso alt und abgenutzt wie dieses
Zimmer.«
Beinahe gegen ihren Willen musterte Irene das Schlafzimmer ihrer Schwester, und obgleich sie wünschte, es wäre
anders, musste sie doch zugeben, dass die ausgeblichenen
Tapeten, die fadenscheinigen Polsterbezüge und auch der
abgetretene Perserteppich Lavinias Worte nur bestätigten. Die
Decke hatte Risse bekommen, und das Parkett war an den
Stellen, wo kein Teppich lag, ganz matt.
»Aber wir werden nicht so einfach aufgeben«, sagte Irene
munter. »Ich habe dir eine Tasse Suppe mitgebracht, schön
heiß und herzhaft, und heute Nachmittag –«
»Brühe?«, wiederholte Lavinia mit matter Stimme, doch ihre
Augen schienen ein wenig aufzuleuchten. »Was für eine
Brühe?«
Irene nahm die Tasse vom Nachttisch und hielt sie ihrer
Schwester an die Lippen. »Die Art von Brühe, die dir gut tun
wird«, versicherte sie ihr. »Nur fürchte ich, dass sie mir heute
etwas dünn geraten ist.« Anfangs schien es, als würde ihre
Schwester die Suppe verweigern, doch dann öffnete sie die
Lippen einen Spalt und kostete ein wenig.
»Gut«, befand sie. Mit zitternden Händen nahm sie Irene die
Suppentasse ab und trank sie ohne abzusetzen aus. Das
Leuchten in ihren Augen wurde stärker, und auch ihre Wangen
bekamen etwas Farbe. »Gibt es noch mehr?«, fragte Lavinia
mit bebender Stimme.
»Ein wenig«, erwiderte Irene.
»Kann ich noch etwas haben?«
»Jetzt nicht.« Irene nahm die Tasse und erhob sich. »Ich
möchte, dass du dich ausruhst und deine Kräfte sparst.«
Lavinia stieß einen rauen Seufzer aus. »Wozu denn?«,
wisperte sie, mehr zu sich als zu Irene.
»Halt noch ein wenig durch, Lavinia«, sagte Irene zu ihr.
»Es wird alles wieder gut. Halt noch ein bisschen länger aus.«
Sie zog die Tür von Lavinias Schlafzimmer hinter sich zu
und ging in die Küche, um die Tasse abzuwaschen. Auf dem
Weg dorthin sah sie sich in den Räumen der Wohnung um, die
sie gemeinsam bewohnten, seit sie vor vielen Jahren nach New
York gekommen waren, und fragte sich, ob Lavinia nicht
Recht hatte. Es waren nicht nur Lavinia und ihr Schlafzimmer,
die müde und abgenutzt waren. Wenn sie sich so umsah,
musste sie feststellen, dass überall an den Wänden die Farbe
abblätterte und alles alt und verwohnt aussah.
Aber dagegen lässt sich etwas unternehmen, sagte sie sich.
Das kann alles wieder hergerichtet werden. In der Küche stellte
sie die Suppentasse ins Spülbecken und kramte in ihrer großen
bestickten Tasche nach der Quittung für die Vase, die sie
gestern erstanden hatte. Dann setzte sie sich ans Telefon und
wählte die Nummer von Antiques By Claire. Sie erklärte kurz
ihr Anliegen und legte wieder auf.
Ja, entschied sie, alles kann wieder ins Lot gebracht werden.
Und ich werde das in die Hand nehmen.
»Ist es wirklich zu viel verlangt, wenn Sie mir mit dieser Vase
helfen?«, fragte Caroline den Taxifahrer, der vor zwei Minuten
vor dem Haus 100 Central Park West geparkt hatte und seither
keine Anstalten machte, ihr beim Entladen der großen
Orientvase zu helfen, die auf dem Rücksitz lag. Stattdessen saß
er wie festgenagelt hinterm Steuer, starrte durch die
Windschutzscheibe, hatte das Radio noch lauter gedreht und tat
so, als existierte sie gar nicht. »Oder soll ich mich lieber an die
TLC wenden und Ihnen das Trinkgeld streichen?« Die
Drohung mit der Taxi & Limousine Commission machte ihm
schließlich Beine. Und obwohl es jetzt auch nichts mehr nützte,
nachdem er sich taub gestellt hatte, als sie ihn vor zwanzig
Minuten gebeten hatte, das Radio ein wenig leiser zu drehen,
stellte er es jetzt ab und stieg aus. Einen Moment später war die
Vase aus dem Taxi gehoben und stand nun auf der untersten
der drei Stufen, die den Rinnstein überspannten und das riesige
Portal des Rockwell vom Gehsteig trennten. Wortlos bezahlte
Caroline den Fahrer und gab ein Trinkgeld, das sich auf exakt
zehn Prozent des Fahrpreises belief, doch dann hielt sie kurz
inne. Wahrscheinlich hat er

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