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Mitternachtsstimmen

Mitternachtsstimmen

Titel: Mitternachtsstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Saul
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Rockwell sind ein ziemlich
anspruchsvoller Haufen. Wer uns verärgert, wird auf der Stelle
geköpft! Die Straßen sind voll mit Leuten, die es wagten –«
Aber Caroline hörte gar nicht mehr zu. Fasziniert ließ sie den
Blick durch das domartige Foyer wandern, das perfekt zur
äußeren Fassade des Gebäudes passte. Die Eingangshalle erhob
sich über zwei Stockwerke und schloss mit einer Decke ab, die
so dunkel gehalten war, dass Caroline anfangs nur etwas wie
einen Wald bei Nacht darauf erkannte. Doch dann entdeckte sie
seltsame Gestalten in den Tiefen des Waldes – gehörnte
Männer in Fell gehüllt, die um einen Tisch und die blutigen,
ausgeweideten Überreste eines Mahls saßen. In den Ästen der
umgebenden Bäume hockten riesige schwarze Vögel mit
gebogenen Schnäbeln. Ihre Krallen schienen sich bereits in
Erwartung einiger Leckerbissen zu bewegen. In dem von
dunklen Wolken verhangenen Himmel schimmerte eine
schmale Mondsichel, und während Caroline diese merkwürdige Szene betrachtete, spürte sie, wie ein Kälteschauer sie
durchrieselte, als wäre ihr der Anblick des düsteren
Deckengemäldes in die Knochen gefahren.
An den mit sonderbar matten Eichenpaneelen verkleideten
Wänden hingen goldgerahmte Ölgemälde, die aus derselben
Ära zu stammen schienen wie das Gebäude selbst und sich der
Umgebung perfekt anpassten: Landschaften und Stillleben, die,
obwohl im Laufe der Jahre nachgedunkelt, auch anfangs nicht
weniger düster gewesen waren als diese unheimliche Szene
oben an der Decke. Direkt vor ihr wand sich eine geschnitzte
Holztreppe in viereckigen Spiralen nach oben, in deren Mitte
ein altmodischer Aufzug mit Scherengittern Platz gefunden
hatte. Über der Kabine verschwanden die Zugseile in den
Höhen des Schachts. Links von der Treppe befand sich die
Portierloge, auf der rechten Seite ein offener Kamin, in dem ein
unermüdliches Feuer brannte, als wollte es der frühlingshaften
Wärme des Nachmittags trotzen. Beleuchtet wurde diese
riesige Halle allein von hoch oben an der Wand angebrachten
bronzenen Wandleuchten, deren Licht nichts gegen die
Düsterheit ausrichten konnte, die über dem gesamten Raum
lastete.
»Ich nenne das Dekor ›Rockwell Macabre‹«, bemerkte Tony
Fleming süffisant, während er Caroline bei ihrem ausgiebigen
Rundblick beobachtete. »Und ehe wir uns nach oben zu Irene
und damit in die Höhle des Löwen begeben, sollten wir uns
eine Strategie überlegen. Aber zuallererst eine Frage.« Sein
Blick senkte sich auf die Vase. »Was ist Ihre ganz ehrliche
Meinung zu diesem guten Stück?«
Wiederhole einfach, was Claire sagen würde, ermahnte
Caroline sich im Stillen. Aber es wollte ihr nicht gelingen,
nicht angesichts der kühlen blauen Augen, die Tony Fleming
auf sie gerichtet hatte, und dem sonderbaren Gefühl, das sein
Blick in ihrer Magengrube auslöste. »Ich finde, es ist eines der
hässlichsten Stücke, die ich je gesehen habe, und ich weiß, dass
Ms. Delamond beim Kauf übervorteilt worden ist. Samstagvormittag lag der Preis dieser Vase noch bei neunzig Dollar,
doch meine Chefin hat sie mich, kurz bevor Ms. Delamond den
Laden betrat, mit neunhundert Dollar auszeichnen lassen. Ich
habe versucht, es ihr irgendwie beizubringen, aber –«
»Aber es hat sie nicht gekümmert«, beendete Tony den Satz.
»Machen Sie sich darüber keine Gedanken – Irene kann sich
diese Scheußlichkeit leisten. Außerdem bin ich überzeugt
davon, dass sie ohnehin nicht der Vase wegen dieses Geschäft
aufgesucht hat.« Ihre Blicke trafen sich, und Caroline spürte,
dass sie errötete. Was hat das zu bedeuten?, fragte sie sich. Das
ist doch verrückt! Ich kenne diesen Mann überhaupt nicht! »Jetzt ist die Frage, wie Sie die Geschichte zu handhaben
gedenken.« Er manövrierte die Vase in den Fahrstuhl. »Wir
können Irene ihren Spaß haben lassen, und anschließend
getrennte Wege gehen, oder wir können sie wirklich glauben
machen, sie hätte einen Coup gelandet, und ich lade Sie zum
Abendessen ein.«
Als er das Scherengitter zuzog, und die Kabine ratternd nach
oben schwebte, stellte Caroline die Frage, die ihr gerade durch
den Kopf geschossen war: »Warum haben Sie mich nach dieser
Vase gefragt?«
»Ganz einfach. Wenn sie Ihnen gefallen hätte – oder Sie das
zumindest behauptet hätten – wäre ich höflich gewesen, hätte
mich von Irene zu einem Martini überreden lassen, und dann
ganz schnell den Rückzug angetreten. Nachdem Sie jedoch

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