Mitternachtsstimmen
mir, was da los ist.«
»Ach, darum geht es ja. Nichts ist los. Zumindest nichts, wo
ich einhaken könnte. Rebecca ist ganz verrückt nach den
Albions, und sie nach ihr. Aber irgendetwas stimmt mit diesem
ganzen Gebäude nicht, und Rebecca scheint mir ständig krank
zu sein.«
Nathans linke Augenbraue hob sich ein wenig skeptisch.
»Ständig?«, wiederholte er. »Genauer, bitte.«
»Also gut. Als ich sie im Frühling besuchte, lag sie mit
irgendeiner Erkältung im Bett. Und gestern sah sie so blass aus,
als hätte sie sich noch immer nicht davon erholt.«
»Oder sich eine neue zugezogen.«
Andrea nickte, aber nicht zustimmend. »Auch möglich. Das
versuche ich mir auch einzureden. Aber das Mädchen sieht
verdammt noch mal nicht gesund aus.«
»Wie nicht gesund?«
»Zu dünn – zu bleich.«
Nathan Rosenberg verschränkte die Arme vor der Brust.
»Okay, Andrea, jetzt reden wir mal Klartext. Erklär mir
bitte, warum du dich bei all den Kindern dieser Stadt, die in
Slums bei Pflegeeltern leben, die sie nur wegen der Kohle aufnehmen, die sie jeden Monat für sie einstreichen, ausgerechnet
über diese Rebecca Mayhew den Kopf zerbrichst, die in den
Honigtopf gefallen ist? Für die meisten Kinder ist Übergewicht
das Problem, nicht, dass sie zu dünn sind. Und ›bleich‹? Das
klingt so nach viktorianischen Romanen. Was stört dich
wirklich an der Sache?«
Ganz automatisch begann Andrea wieder mit den Fingern zu
trommeln, bemerkte es diesmal jedoch schnell. »Ich sagte doch
schon – ich weiß es nicht. Irgendwie ist bei der Sache alles ein
bisschen schräg.« Eins nach dem anderen hakte sie alle Dinge
an dem Gebäude ab, die ihr missfielen, von der Lobby bis zum
Fahrstuhl, den abgetretenen Teppichen und der abblätternden
Wandfarbe.
»Was nur bedeutet, dass die Hausverwaltung am Unterhalt
spart«, fasste Nathan Rosenberg zusammen.
»Es ist nicht nur dieses Gebäude. Da ist noch Mrs. Albion
und der Doktor und die Nachbarn und –«
Rosenberg gebot ihrem Wortschwall Einhalt, indem er die
Hand hob. »Wow! Der Doktor? Welcher Doktor?«
»Sein Name ist Humphries«, erwiderte Andrea. »Ich bin ihm
zweimal begegnet. Das erste Mal im Frühling bei den Albions.
Er kam gerade, als ich ging, und hat mir einen äußerst
merkwürdigen Blick zugeworfen. Ich meine, er hat mich noch
nie zuvor gesehen und starrt mich an wie – ich weiß nicht –
wie einen Feind, würde ich sagen.«
»Er kommt zu den Albions?«, erkundigte sich Rosenberg.
»Sie haben einen Arzt gefunden, der Hausbesuche macht?« Er
grinste. »Jetzt wird die Geschichte aber wirklich sonderbar!«
»Es war tatsächlich sonderbar«, beharrte Andrea. »Offenbar
wohnt er auch in diesem Haus, deshalb finde ich seine
Hausbesuche nun nicht so merkwürdig. Aber die Sache ist die,
dass ich kein Krankenhaus in ganz New York finden kann, wo
er praktiziert, und im Telefonbuch steht er auch nicht.«
»Vielleicht ist er schon in Pension und tut den Albions nur
einen Gefallen?«
»Wenn er in Pension ist und seine Zulassung zurückgegeben
hat, dann kann er nicht praktizieren, Gefallen hin oder her.«
»Und, was willst du nun tun? Das Mädchen dort wegnehmen, weil die Pflegeeltern einen Arzt gerufen haben, als es
krank war?«
Andrea funkelte ihn wütend an. »Nein, will ich nicht. Aber
ich werde das Gefühl nicht los, dass da was nicht stimmt, und
ich will wissen, was es ist.«
Rosenberg fing ihren Blick auf. »Und ich werde das Gefühl
nicht los, dass da noch etwas ist, was du mir verschweigst?«
Ein paar Sekunden lang schwieg Andrea, aber dann nickte
sie: »Da wäre noch meine beste Freundin«, sagte sie. »Meine
Freundin Caroline, mit der ich aufs College gegangen bin,
erinnerst du dich an sie?« Nate Rosenberg nickte. »Sie hat
gestern geheiratet. Einen Typ, der im Rockwell wohnt.«
Rosenberg stieß einen leisen Pfiff aus. »Klingt, als habe sie
fette Beute gemacht.«
»Ich hatte ihr geraten, ihn fallen zu lassen. Nein, nicht exakt
fallen zu lassen, aber als sie mir zum ersten Mal von ihm
erzählte, riet ich ihr, sich nicht mit ihm zu verabreden. Nun,
anscheinend hat sie sich nicht an meinen Rat gehalten.«
»Warum sollte sie auch? Weißt du denn etwas über diesen
Typ? Hat er etwas mit Rebecca Mayhew zu tun?«
»Nein, es ist wie gesagt nur so ein Gefühl, das ich habe.
Nichts Konkretes. Doch sobald sie von der Hochzeitsreise
zurückkommen, wird sie mit den Kindern bei ihm einziehen.«
Rosenberg setzte eine übertrieben erschrockene
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