Mitternachtsstimmen
Unschuldsmiene zurück.
»Weshalb hast du beim Essen eigentlich nichts gesagt?«,
wollte Laurie nun wissen.
Plötzlich schaute sich Amber nervös um, als hätte sie Angst,
jemand könnte sie belauschen. »Mein Vater will, dass ich nett
zu ihr bin.« Sie senkte die Stimme zu einem kaum hörbaren
Flüstern. »Ich glaube, es geht um irgendein Geschäft oder so.
Deshalb muss ich so tun, als sei sie meine beste Freundin.«
Laurie starrte sie fassungslos an. »Du machst Witze – das hat
er wirklich von dir verlangt?« Amber nickte. »Und deine Mom
hat das zugelassen?« Amber nickte wieder. »Meine Mutter
würde das Tony nie gestatten. Aber er würde auch gar nicht auf
so eine Idee kommen.« Sie überlegte kurz. »Willst du mit zu
mir kommen?« Jetzt war es Amber, die überlegte. »Ich weiß
nicht …«
»Warum nicht? Wir sind doch Freundinnen, oder?« Laurie
bemerkte ein kurzes Zögern, ehe Amber zustimmte, doch als
die beiden Mädchen in die Central Park West abbogen, wurden
Ambers Schritte immer langsamer, bis sie an der Ecke des
Rockwell endgültig stehen blieb. »Was ist denn?«, fragte
Laurie. »Du hast doch nicht etwa Angst, oder?«
Obwohl Amber heftig den Kopf schüttelte, fielen ihr
plötzlich wieder all die Geschichten ein, die sie, Laurie und alle
anderen gehört hatten, als sie noch kleiner waren. Aber das
waren doch nur Geschichten gewesen – die sie sich selbst
ausgedacht hatten! Warum war ihr dann plötzlich so mulmig
zumute? Dann sah sie jemanden im siebten Stock winken.
»Wer ist das denn?«, fragte sie.
»Rebecca Mayhew«, antwortete Laurie. »Willst du sie
kennen lernen?«
Amber runzelte die Stirn. »Wie kommt es, dass sie schon zu
Hause ist? Geht sie denn nicht zur Schule?«
Laurie verneinte. »Sie ist krank. Aber keine Angst, es ist
nichts Ansteckendes. Sie leidet, glaube ich, an Anämie oder so
was Ähnlichem. Sie ist echt nett. Komm schon – gehen wir
hinauf und besuchen sie.« Sie überquerte die Straße und
schaute sich dann um, als sie merkte, dass Amber nicht mehr
neben ihr ging. »Kommst du?«
Amber starrte noch immer die düstere Fassade des Rockwell
an. Das waren doch nur Geschichten, versuchte sie sich zu
beruhigen. Erfundene Geschichten. Aber noch während sie die
Worte lautlos vor sich hin sprach, durchfuhr sie ein kalter
Schauer des Begreifens, und sie machte auf dem Absatz kehrt.
»Amber?«, rief Laurie ihr zu. »Was ist denn?«
Amber drehte sich zu ihrer Freundin um, doch ihr Blick
blieb unweigerlich an dem unheimlichen Gebäude hängen, das
hinter Laurie in den Himmel ragte. Rebecca war verschwunden, dafür spähte ein anderes Gesicht auf die Straße
hinunter, diesmal aus dem fünften Stockwerk.
Es war ein Mann, und obwohl Amber ihn kaum richtig sehen
konnte, war da etwas an der Art, wie er sie ansah, das das leicht
mulmige Gefühl von vorhin in eiskaltes Entsetzen verwandelte.
»Ich werde sterben«, durchfuhr es sie. »Wenn ich da
hineingehe, werde ich sterben.«
Ohne ein weiteres Wort zu Laurie drehte sich Amber um und
rannte die Central Park West zurück.
Detective Frank Oberholzer drückte den Zeigefinger auf
denselben Klingelknopf wie Nate Rosenberg einige Stunden
zuvor. Doch als er sich zu erkennen gab, änderte sich der
Tonfall des Hausmeisters schlagartig. »He, ich will kein Ärger.
Ich kümmre mich anständig um das Haus hier, und die
Verwaltung hat keinen Stress mit mir«, erklärte er mit einer
Stimme, die Oberholzers jahrelanger Erfahrung zufolge zu
einem Mann gehörte, der seinen besten Freund verpfeifen
würde, wenn man ihn nur ein bisschen einschüchterte.
»Fein, dann haben Sie sicher auch kein Problem, wenn ich
mit der Hausverwaltung über Ihre Vergangenheit rede, oder?«
Das Gesicht des Hausmeisters wurde noch um eine Spur
käsiger. »Mann, was habe ich Ihnen denn getan?«
»Gar nichts«, versicherte ihm Oberholzer. »Ich bitte Sie ja
auch nur um einen winzig kleinen Gefallen. Ich möchte rasch
einen Blick in Andrea Costanzas Wohnung werfen. »Ist es eine
Einzimmerwohnung?«
»Apartment«, brummte der Hausmeister, und die Tatsache,
dass er überhaupt geantwortet hatte, verriet dem Detective,
dass er gewonnen hatte.
»Demnach kann ich alles von der Tür aus einsehen, richtig?«
»Ja, nehme ich an.«
»Gut, wir machen das folgendermaßen: Sie schließen die Tür
auf, ich schau hinein, wir sehen nichts, Sie schließen wieder ab,
und das war’s auch schon, okay?«
»Was ist mit dem Hund?«, warf der Hausmeister
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