Mitternachtsstimmen
Mal heiraten würde,
würde ich sie auch mitnehmen. Außerdem würde ich ohnehin
nie einen Mann heiraten, der meine Kinder nicht um sich haben
will.« Damit wandte sie sich von Caitlin an Laurie. »Wie ist
denn dein Stiefvater? Wie heißt er?«
»Tony Fleming.«
»Ist er mit bei euch eingezogen?«
Laurie schüttelte den Kopf. »Wir wohnen jetzt an der Central
Park West.« Sie zögerte einen Moment, ehe sie hinzufügte:
»Im Rockwell.«
Schweigen senkte sich über den Tisch; die Mädchen
wechselten betretene Blicke. Schließlich war es Caitlin, die als
Erste den Mund aufmachte. »Im Rockwell? Du wohnst
tatsächlich da? Wie hältst du das nur aus?«
Laurie spürte, dass sie schon wieder rot wurde. »Warum?
Was soll daran so seltsam sein?«
Caitlin schüttelte sich. »Nichts. Abgesehen davon, dass es in
diesen alten Gemäuern angeblich spukt, im Keller Dutzende
Leichen vergraben, und die Bewohner alle verrückt sind.«
Laurie machte den Mund auf, um Caitlin zu widersprechen,
doch ehe ein einziges Wort über ihre Lippen kam, war ihr der
Albtraum wieder gegenwärtig, zusammen mit der Erinnerung
an die Stimmen, die sie durch die Wand gehört hatte. Na und?
Sie hatte auch vorher schon manchmal schlecht geträumt und
in der alten Wohnung die Nachbarn über ihnen herumgehen
hören. »An dem Haus gibt es nichts auszusetzen«, erklärte sie
schließlich, merkte jedoch selbst, wie unsicher ihre Stimme
klang. »Und alle diese komischen Geschichten glaubt sowieso
kein Mensch. Oder glaubst du wirklich, dass Rodney ein Troll
ist, der im Park unter einer Brücke lebt?«
Caitlin Murphy schaute nicht einmal irritiert drein. »Wer ist
Rodney?«
»Der Portier«, sagte Laurie. »Hast du diese Geschichte etwa
noch nie gehört?«
Caitlin Murphy fixierte Laurie mit einem kalten Blick. »Du
kannst sagen, was du willst, aber jeder weiß, dass das ein
seltsames Gebäude ist. Meine Mom sagt, dort wohnen nur
steinalte Leute.«
»Alte Leute sind doch keine Geister«, gab Laurie zurück.
»Außerdem ist Tony nicht alt.«
»Wie alt ist er denn?«, wollte Caitlin wissen.
Plötzlich wünschte sich Laurie, sich nicht an diesen Tisch
gesetzt zu haben. »Wen interessiert das schon?«, meinte sie.
»Uns alle«, antwortete Caitlin. »Also, hat deine Mutter der
Kohle wegen einen alten Knacker geheiratet? Bist du deshalb
wieder hier gelandet?«
Jetzt hatte Laurie endgültig genug. Sie schnappte sich ihr
Tablett, setzte sich allein an einen freien Tisch und aß so
schnell sie konnte den Teller leer. Die restliche Mittagspause
verbrachte sie in der Bibliothek und achtete am Nachmittag
darauf, nicht in der Nähe ihrer alten Freundinnen zu sitzen.
Doch als sie nach Schulschluss die breite Treppe hinabging,
war Amber auf einmal neben ihr. Laurie streifte sie mit einem
raschen Blick, sagte aber nichts. Sie blieb auch nicht stehen, als
sie, unten angekommen, nach links Richtung Park gehen
musste. Amber blieb an ihrer Seite, obwohl sie genau in der
entgegengesetzten Richtung wohnte, am Riverside Drive.
Ein paar Minuten stapften die beiden Mädchen wortlos
nebeneinander her, und schließlich war es Amber, die als Erste
das Wort ergriff. »Tut mir Leid, was heute in der Cafeteria
passiert ist.«
»Wer ist denn diese Zicke überhaupt?«, gab Laurie zurück.
Sie hatte die Entschuldigung nicht angenommen, aber auch
nicht abgelehnt.
Amber zuckte die Achseln. »Eigentlich ist sie ganz in
Ordnung. Ich glaube, sie ist nur eifersüchtig.«
Jetzt blieb Laurie stehen und sah Amber an. »Eifersüchtig?
So hat sie sich aber nicht benommen; eher so, als hasste sie
mich. Dabei kennt sie mich doch gar nicht!«
»Sie weiß, dass du meine beste Freundin warst«, erwiderte
Amber. »Ihre Mom hat letztes Jahr zum vierten Mal geheiratet
und ist nie zu Hause.«
»Ich dachte, sie wären letzten Sommer alle in Southampton
gewesen«, sagte Laurie und biss die Zähne zusammen, wie die
arroganten Mädchen im Fernsehen.
»Ihre Mom war dort, aber Caitlin nur ein paar Mal am
Wochenende.«
Laurie starrte Amber verdutzt an. »Du meinst, sie lassen sie
einfach allein zu Hause?«
»Nein, da gibt es eine Haushälterin und eine Köchin. Und
einen Butler und einen Chauffeur. Ganz allein ist sie also
nicht.« Sie zögerte kurz. »Und ihr Stiefvater ist mindestens
achthundert Jahre alt.«
Laurie blieb abrupt stehen. »Du meinst, dass ihre Mutter
wegen Geld geheiratet hat?«
» Das habe ich nun wieder nicht gesagt«, gab Amber mit
übertriebener
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