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Mitternachtsstimmen

Mitternachtsstimmen

Titel: Mitternachtsstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Saul
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ersticken zu müssen. Was sollte er tun?
Versuchen, die schwere Hand des Portiers abzuschütteln? Und
dann, was weiter? Sollte er davonrennen? Wohin? Zur
Eingangstür würde er es niemals schaffen, und wenn er die
Treppen hinaufflüchtete, würde Rodney ihn noch vor dem
zweiten Stockwerk einholen.
Schreien! Genau das würde er tun! Aber wer würde ihm
helfen? Wer würde ihn hier überhaupt hören? Egal, irgendwas
musste er tun, er konnte doch nicht einfach so dastehen und –
Und dann, gerade als er zu einem Schrei ansetzen wollte,
nahm Rodney die Hand von seiner Schulter und fing so laut an
zu lachen, dass Ryan ihn völlig entgeistert anstarrte.
»Ist schon gut«, sagte Rodney. »Ich habe mir nur einen
Scherz mit dir erlaubt. Aber eigentlich habe ich was für dich.«
Als der Junge sich nicht von der Stelle rührte, ging Rodney zu
seinem Empfangspult und kam mit einer weißen Papiertüte
zurück. »Karamellbonbons. Mr. Burton hat sie extra für dich
gemacht. Die besten, die du je gegessen hast – noch besser als
die von Godiva.« Rodney drückte Ryan die Tüte in die Hand,
drehte ihn um und gab ihm einen leichten Klaps, damit er sich
wieder in Bewegung setzte. »Und vor mir brauchst du keine
Angst zu haben«, rief er Ryan hinterher. »In Wirklichkeit lebe
ich gar nicht im Park unter einer Brücke, sondern in einer
Höhle. Einer Höhle am See. Das ist es, was uns Trollen gefällt
– hübsche dunkle Höhlen mit Wasser in der Nähe, damit wir
die kleinen Jungs waschen können, ehe wir sie mit in die Höhle
nehmen und fressen!«
Ein gackerndes Lachen folgte Ryan, der wie der Blitz die
Treppen hinaufschoss und dieses Lachen noch oben im fünften
Stock hörte.
Kaum hatte er die Tür aufgeschlossen, rief er nach seiner
Schwester.
Und erhielt keine Antwort.
Aber irgendwie fühlte sich die Wohnung nicht leer an.
»Mo-om?«, rief er und hörte das nervöse Zittern in seiner
Stimme. »Jemand zu Hause?«
Wieder keine Antwort. Dennoch hatte er das unbestimmte
Gefühl, dass er in der riesigen Wohnung nicht allein war.
Vielleicht sollte er nach oben gehen. Sich in sein Zimmer
einschließen und warten, bis seine Mutter nach Hause käme.
Aber wenn jemand in der Wohnung war, würde er dann
nicht oben auf ihn warten, weit entfernt von der Wohnungstür,
wo er keine Chance zur Flucht hätte?
Vielleicht sollte er wieder nach unten gehen.
Oder er benahm sich kindisch. Vielleicht war wirklich
niemand in der Wohnung. Schließlich nahm er all seinen Mut
zusammen und rief noch einmal: »He, ich bin zu Hause!
Irgendjemand da?«
Stille.
Nachdem er sich mit einem tiefen Atemzug gerüstet hatte,
wagte er sich so weit von der Wohnungstür weg, bis er einen
Blick ins Wohnzimmer und Esszimmer werfen konnte.
Dort sah es genauso aus wie am Morgen.
Er war auf dem Weg in die Küche, als er plötzlich stehen
blieb.
Die Tür zu Tonys Arbeitszimmer – die Tür, die gewöhnlich
verschlossen war – stand ein Stück weit offen.
Vorsichtig näherte er sich und spähte hinein. Von der
Türschwelle aus gesehen, schien das Arbeitszimmer leer zu
sein, doch er konnte nicht den ganzen Raum überblicken. Seine
Hand zitterte, als er sie ausstreckte, um die Tür ein bisschen
weiter aufzuschieben.
Das leise Ächzen der Türangeln erschreckte ihn so, dass er
unwillkürlich zurückwich. Dann, als er die Ursache dieses
Geräuschs erkannt hatte, wagte er sich wieder ein Stück weiter
vor und trat schließlich über die Schwelle in das Arbeitszimmer seines Stiefvaters.
Dort roch es genauso modrig wie im Rest der Wohnung,
aber die Einrichtung wirkte noch älter als die der anderen
Zimmer.
Die Wände waren ringsum mit einem dunklen Holz
verkleidet, und die beiden Fenster, die zur Straße hinausgingen,
ließen so wenig Licht herein, dass das grüne Leder, mit dem
alle Möbelstücke bezogen waren, beinahe schwarz aussah. Auf
dem Boden lag ein dünner Teppich, dessen Muster nicht nur
von einem ausladenden alten Sofa und einem Lehnstuhl mit
einer Ottomane davor verdeckt wurde, sondern auch von
zahlreichen Tischen, auf denen alles Mögliche stand: vergilbte
Fotografien in angelaufenen Silberrahmen, geschnitzte Statuen
aus Elfenbein und sonstige kleine Kostbarkeiten. In der Nähe
der Fenster stand ein wuchtiger Schreibtisch, und an einer
Wand befand sich ein offener Kamin. Zu beiden Seiten des
Kamins erhoben sich Bücherregale, und in einer Ecke
verstaubte ein großer Globus.
Vor dem Kamin stand ein Ohrensessel, daneben ein

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