Mitternachtsstimmen
nachdem er ihr Handy angerufen hatte, informierte ihn, dass
der »Teilnehmer momentan nicht erreichbar« sei. Irgendwelche
Termine hatte er auch von der Liste der Möglichkeiten
gestrichen, nachdem er einen Blick auf ihren Terminkalender
geworfen hatte, den sie noch viel ordentlicher führte als er den
seinen. Der letzte Eintrag war ihr Besuch bei Dr. Humphries
gestern Nachmittag gewesen; der nächste war eine Fallbesprechung, die für zwei Uhr an diesem Nachmittag angesetzt
war. Keine Ärzte, keine Friseure, kein gar nichts.
Womit nur noch die Möglichkeiten übrig blieben, an die
Nate nicht hatte denken wollen und es auch jetzt nicht wollte:
Dinge wie Raubüberfall oder Vergewaltigung.
Nicht Andrea, sagte er sich. Sie ist klug und kann auf sich
selbst aufpassen. Und nach dem, was dem Mann ihrer Freundin
vor knapp einem Jahr passiert war, war sie noch vorsichtiger
geworden. »Ich jogge nicht mehr im Central Park, das
versichere ich dir«, hatte sie ihm erklärt und war kurz
erschaudert bei dem Gedanken an –
Den Namen hatte er vergessen, falls sie ihn überhaupt
erwähnt hatte, aber das tat nichts zur Sache. Der Punkt war,
dass Andrea entschlossen war, noch aufmerksamer zu sein als
sie es ohnehin schon gewesen war. Und es war ihr nie etwas
passiert.
Und jetzt ist ihr auch nichts passiert, betete er sich vor. Sie
hat sich nur verspätet, mehr nicht. Und was würde er jetzt
unternehmen? Die Polizei verständigen, weil seine Arbeitskollegin zum ersten Mal eine halbe Stunde zu spät kam? Wenn
er das täte, würden sie ihn wahrscheinlich einsperren!
Mittags, als Andrea sich immer noch nicht gemeldet hatte,
nahm er seinen Lunchbeutel, aß sein Sandwich in der U-Bahn
zur 72. Straße und lief dann die drei Blocks zu ihrem Haus.
Eine Ewigkeit drückte er auf ihre Klingel, und als niemand
reagierte, klingelte er beim Hausmeister. Eine mürrische
Stimme verlangte zu wissen, was er wolle, doch als er erklärte,
wer er war, und dass er nur nachsehen wollte, ob mit Andrea
Costanza alles in Ordnung sei, stieß der Mann nur ein
humorloses Lachen aus.
»Glaub’n Sie denn, ich bin verrückt? Ich schließ auf, und sie
ist da, dann zerrt sie mich vor den Kadi. Schließ ich auf, und
sie ist nich’ da und merkt es später, zerrt sie mich auch vor’n
Kadi. Ich hab meine Anweisungen von der Verwaltung. Ohne
Gerichtsbeschluss mach ich keine Wohnung auf. Also, sehn’se
zu, dass Sie so’n Wisch beibringen, okay?«
Als Nate nochmals bei dem Herrn klingelte, wurde dessen
Stimme richtig hässlich. »Ziehen’se Leine, sonst komm ich
raus und mach Ihnen Beine.«
Wieder zurück im Büro, redete er sich ein, dass das alles
kein Problem sei und sie sonstwo sein könnte, und dass sie
wahrscheinlich zu der Zwei-Uhr-Besprechung zurück sein und
er sich dann vorkommen würde wie ein Idiot.
Sie kam nicht zu dieser Besprechung, doch jeder der
Anwesenden bestätigte, dass etwas passiert sein müsse und
wollte von Nate wissen, was er bisher unternommen habe.
»Trotzdem bin ich sicher, dass es für ihr Fernbleiben eine
ganze vernünftige Erklärung gibt«, sagte er, nachdem er alles
wiederholt hatte, was er unternommen hatte.
»Ja, das mag auf jeden anderen zutreffen«, pflichtete Corrine
Bradshaw ihm bei und legte die Tagesordnung beiseite, die sie
vor einer halben Stunde aufgesetzt hatte. »Aber nicht auf
Andrea. Sie ist wie du, Nate; bei ihr weiß man immer, wo sie
ist und was sie tut.«
»Also, was unternehmen wir jetzt?«, fragte Nate in die
Runde. »So früh kann man noch keine Vermisstenanzeige
aufgeben. Verdammt, wir machen ja auch kaum einen Finger
krumm, wenn ein Kind am Abend nicht heimkommt.«
»Wir teilen uns ihre Termine für heute«, entschied Corrine.
»Aber lasst uns nicht die Pferde scheu machen – bittet nur die
Leute, Andrea auszurichten, sie möge im Büro anrufen, wenn
sie sich bei jemandem meldet. Sagt ihnen, es ginge um einen
kranken Verwandten oder so was.« Ihr Blick suchte Nate.
»Hast du ihren letzten Termin vom Freitag angerufen?«
Nate nickte. »Das mache ich sofort.«
Zwei Minuten später hatte Nate Dr. Theodore Humphries am
Telefon. »Oh, ja, sie war bei mir«, erzählte ihm Humphries,
nachdem er sich vorgestellt hatte. »Hat mich nach der kleinen
Mayhew gefragt.«
Der leicht verärgerte Tonfall des Doktors ließ Nate
aufhorchen. »Rebecca Mayhew steht unter Miss Costanzas
Obhut – es ist ihre Aufgabe, Fragen nach dem Mädchen zu
stellen.«
»Welche ich auch
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