Mitternachtsstimmen
Tisch
mit einer Lampe darauf, der knapp über dem Boden noch eine
Ablage hatte.
Darauf lag ein Buch, das aussah wie ein Fotoalbum, so alt,
dass der Ledereinband schon ganz abgenutzt war.
Einer spontanen Regung folgend, nahm Ryan das Album
heraus, legte es auf den Tisch, zog an der Kette der
altmodischen Lampe mit dem grünen Glasschirm und schlug
das Album auf.
Die Bilder sahen so alt aus, dass Ryan Angst hatte, sie
würden zu Staub zerfallen, wenn er sie nur berührte, und
obwohl sie in einem Album aufbewahrt wurden, waren sie
schon stark verblasst. Als Ryan die Leute auf den Fotos
betrachtete – alle so altmodisch gekleidet, die Männer mit
steifen Kragen und unbequem aussehenden Gehröcken, die
Frauen in bodenlangen Kleidern mit Reihen von kleinen
Knöpfen, die bis zum Hals reichten, und Spitzen an den
Ärmeln –, wurde es ihm ganz unheimlich zumute.
Manche der Gesichter kamen ihm irgendwie bekannt vor,
aber er wußte nicht woher.
Vorsichtig blätterte er die Seiten um, um die Fotos ja nicht
zu knicken.
Aber als er die vierte Seite umblätterte, fuhr ihm der
Schrecken in die Glieder.
Mit angehaltenem Atem starrte er auf ein Foto. Es zeigte
einen Mann, der in eben diesem Zimmer zu sitzen schien, in
dem Ohrensessel vor dem Kamin.
Der Mann hatte ausgeprägte Gesichtszüge, dunkles, welliges
Haar und seine Augen schauten genau in die Kamera.
Es waren die Augen, die Ryan sofort wieder erkannte.
Die Augen seines Stiefvaters, die ihn von diesem Bild
genauso kalt anstarrten wie am Freitag in seinem Zimmer.
Die Sekunden verstrichen, und Ryans Blick klebte immer
noch wie hypnotisiert an dieser Fotografie. Und jetzt fiel ihm
auch auf, dass es nicht nur die Augen waren, die denen von
Tony Fleming so sehr glichen – alles an diesem Mann auf dem
Foto erinnerte ihn an seinen Stiefvater. Aber –
Plötzlich spürte er, dass er nicht länger allein war.
Laurie. Vielleicht war es nur Laurie.
Aber noch im Umdrehen wurde ihm klar, dass es nicht seine
Schwester war, die hereingekommen war.
Innerlich schlotternd hob er den Blick und sah sich seinem
Stiefvater gegenüber, der ihn wortlos anstarrte.
»Ich … ich … die Tür …«, stammelte Ryan. »Sie war …
war nicht abgeschlossen, deshalb b-bin –«
»Einfach hereinspaziert«, beendete Tony Fleming für ihn
den Satz. Dann versank er wieder in Schweigen, und Ryan
stand stocksteif da, auf alles gefasst. Doch zu seinem großen
Erstaunen begann Tony plötzlich zu lächeln und deutete mit
dem Kinn auf das Fotoalbum. »Wie ich sehe, hast du meine
Familie entdeckt.«
Ryan nickte stumm.
Tony kam einen Schritt näher und beugte sich über die
aufgeschlagene Seite.
»Ah«, machte er. »Mein Urgroßvater. Hier in diesem
Zimmer aufgenommen.« Sein Blick wechselte zu Ryan. »Die
Ähnlichkeit ist verblüffend, nicht wahr?«
Ryan nickte wieder, immer noch stumm wie ein Fisch.
»So«, fuhr Tony fort, ohne die Stimme zu erheben, doch
Ryan hörte den gleichen kalten Unterton heraus wie bei ihrem
letzten Gespräch. »Nun hast du mein Arbeitszimmer gesehen.
Gefällt es dir?«
»Es … es ist irgendwie so altmodisch. Ich meine –«
»Es ist so eingerichtet, wie es meinem Urgroßvater gefallen
hat, meinem Großvater und meinem Vater. Und mir gefällt es
auch. Aber es ist kein Ort, an dem kleine Jungen herumschnüffeln sollten.« Abermals machte sich sein Blick an Ryan
fest. »Ist das klar?«
»J-ja, Sir«, hauchte Ryan.
»Gut«, sagte Tony. »Dann verstehen wir uns ja. Komm, jetzt
gehen wir in die Küche und bereiten für deine Mutter und
Laurie das Abendessen vor.«
Unsicher schaute Ryan seinen Stiefvater an. »Du … du bist
nicht böse auf mich?«
Tony zuckte die Achseln. »Ich wohne hier – du wohnst hier.
Ich habe die Tür offen gelassen – du bist hineingegangen. Mich
trifft genauso viel Schuld wie dich.« Vorsichtig klappte er das
Album zu und legte es wieder an seinen Platz zurück, dann
löschte er das Licht der grünen Lampe. Nachdem sie das
Arbeitszimmer verlassen hatten, zog er die Tür hinter sich zu,
holte einen Schlüssel aus der Tasche und versperrte sie.
Es gab ein klickendes Geräusch, als der Bolzen einrastete.
»Und was ist das?«, fragte Tony und deutete auf die Tüte,
die Ryan in der Hand hielt.
»Karamellbonbons«, antwortete Ryan eifrig, der kaum
glauben konnte, dass er ungeschoren davonkommen sollte.
»Mr. Burton hat sie gemacht.«
»Dann solltest du ihm ein kleines Briefchen schreiben und
dich bedanken«, schlug Tony vor.
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