Mitternachtsstimmen
gekommen. Ich habe eben doch
Recht behalten. Und ich sagte noch …«
Die alte Frau plapperte unbeirrt weiter, wandte sich an jeden,
der in ihrer Nähe stand, aber Caroline hörte schon nicht mehr
zu. Die Eingangstür des Wohnhauses war gerade aufgegangen,
und zwei Männer manövrierten eine Trage die Treppe hinunter
auf die Straße.
Der Körper auf der Trage war ganz von einem blassgrünen
Tuch bedeckt.
Das ist nicht Andrea, dachte Caroline eigensinnig, doch
diese Beteuerung klang selbst in ihren eigenen Ohren wie ein
frommer Wunsch. Und dann, gerade als die Männer die Trage
in einen Wagen hoben, kam etwas Graues aus der Haustür
geschossen, ein kleiner Schnauzer, der aufgeregt kläffte.
»Chloe?« Der Name von Andreas Hund kam Caroline
beinahe unbeabsichtigt über die Lippen, doch der kleine
Schnauzer hörte sofort zu bellen auf und schaute sich um, als
wollte er wissen, wer ihn gerufen hatte. »Ach, Chloe!«, sagte
Caroline und ging in die Hocke, während ihr die Tränen in die
Augen schossen. Der Hund sprang in ihre Arme, leckte ihr die
Tränen vom Gesicht, und Caroline hielt ihn ganz fest und
drückte das Gesicht in sein weiches Fell. Die Erkenntnis, was
geschehen war, traf sie wie ein Schlag. Als der Wagen mit
Andrea Costanzas Leichnam abfuhr, richtete Caroline sich
endlich auf und machte sich – mit Chloe – auf den Heimweg.
Vom restlichen Abend blieben Caroline nur bruchstückhafte
Erinnerungen. Es war, als hätte man einen Film in kleine Teile
zerschnitten und nachlässig wieder zusammengefügt.
Sie wusste noch, dass sie die Wohnungstür aufgeschlossen
hatte, doch an den Weg von Andreas Haus bis zum Rockwell
hatte sie keine Erinnerung.
Sie hatte mit Rochelle und einigen anderen Leuten
telefoniert, das wusste sie noch, doch was genau gesprochen
wurde, daran erinnerte sie sich nicht mehr. Nur die traurigen
Fakten hatten sich in ihr Gedächtnis gebrannt: Andrea ist tot.
Jemand hat sie umgebracht. Kein erzwungener Zutritt zur
Wohnung. Der Mörder kam durchs Fenster.
Sie erinnerte sich an Ryans Frage, als er Chloe sah: »Können
wir sie behalten? Bitte!« Doch ihre Antwort darauf hatte sie
nicht registriert.
Sie wusste noch, dass sie versucht hatte, etwas zu Abend zu
essen, doch was es gegeben hatte, oder ob sie überhaupt etwas
gegessen hatte, wusste sie auch nicht mehr.
Nach dem Abendessen hatten sich Ryan und Laurie auf ihre
Zimmer verdrückt, und sie und Tony waren ins Wohnzimmer
gegangen, das Caroline jedoch nicht als ein solches empfand.
Zumindest war es nicht wie ihr Wohnzimmer. Ihr Wohnzimmer – das einzige, in dem sie sich jetzt wohl gefühlt hätte –
war das in der Wohnung in der 76. Straße gewesen, wo sie mit
Brad gelebt hatte. Nach dessen Tod hatte sie sich oft in die
Geborgenheit des kleinen Zimmers zurückgezogen. Das
Wohnzimmer, in dem sie jetzt saß, war so groß, dass sie sich
selbst in Tonys Gegenwart einsam und schutzlos vorkam, und
obwohl sie sich vergewissert hatte, dass die Fenster
geschlossen waren, wanderte ihr banger Blick immer wieder
dorthin, als erwarte sie einen gesichtslosen Killer zu sehen, der
in ihre Wohnung eindrang. Der es auf sie und ihre Kinder
abgesehen hatte, wie zuvor auf ihren Ehemann und ihre beste
Freundin. Als es ihr endlich gelang, ihren Blick von den
Fenstern loszueisen, wandte sie Tony ihr tränennasses Gesicht
zu. »Warum ist das passiert?«, fragte sie ihn. »Warum haben
sie Brad umgebracht?«
»Brad?«, erwiderte Tony irritiert. »Du sagtest doch –« Aber
Caroline schien ihn gar nicht zu hören. »Warum Andrea?«,
fuhr sie fort. »Was geht hier vor, Tony? Werden sie auch die
Kinder töten? Werden sie Ryan umbringen? Und Laurie?«
Indem sie ihre Ängste laut aussprach, öffneten sich plötzlich in
ihr die Schleusen, die den bisherigen Abend über ihre Gefühle
aufgestaut hatten, und mit einem gewaltigen Schluchzer
schlang sie die Arme um Tony und klammerte sich an ihn.
Tony hielt sie und drückte ihr Gesicht an seine Brust, doch
anstatt Wärme und Trost zu empfinden, durchfuhr sie ein
eisiger Schauder. »Ganz ruhig, Liebes«, flüsterte er. »Nichts
wird passieren. Weder dir, noch Laurie oder Ryan. Das
verspreche ich dir.«
Er hielt Caroline, die am ganzen Körper zitterte, immer noch
in den Armen und versuchte sie zu beruhigen, als das Telefon
klingelte. Gewohnheitsmäßig wollte er abheben, doch dann
zögerte er. Vielleicht sollte er den Anruf dem Anrufbeantworter überlassen. Doch
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