Mitternachtsstimmen
zweifellos Ryan gewesen, der
darauf bestanden hatte, ihn zu behalten und ihn abends mit ins
Bett zu nehmen. Wie war Chloe also in Lauries Zimmer
geraten? Nicht dass das wichtig wäre, abgesehen davon, dass
keines der Kinder Chloe heute Morgen Gassi geführt hatte. Sie
drehte sich um, eilte zurück zu Lauries Zimmer und machte
vorsichtig die Tür auf, weil sie erwartete, dass Chloe wie der
Blitz aus dem Zimmer geschossen käme. Doch statt einer
stürmischen Begrüßung, wedelte Chloe nur ein paar Mal
traurig mit dem Schwanz, bellte kurz und verkrümelte sich
wieder in dem düsteren Zimmer. Dabei hatte Laurie noch nie
die Vorhänge geschlossen gehalten – seit ihrer Kindheit war
Laurie nach dem Aufwachen immer sofort aus dem Bett
gesprungen, um zu sehen wie der Morgen und das Wetter
waren.
Ihre Finger tasteten nach dem Lichtschalter.
Laurie lag gegen einen Kissenberg gelehnt und mit
geschlossenen Augen im Bett. »Laurie?« Als Caroline zum
Bett eilte, sprang Chloe auf die Matratze und leckte Laurie das
Gesicht.
Jetzt schlug sie die Augen auf, blinzelte ins Licht des
Lüsters. »Mom?«
»Schatz? Fühlst du dich nicht –« Caroline musste die Frage
gar nicht erst aussprechen, um die Antwort zu wissen, denn
abgesehen vom Zittern ihrer Stimme sah sie im Schein der
Deckenlampe ganz deutlich, dass ihre Tochter krank war. Sie
war blass und hatte dunkle Ringe unter den Augen, als hätte sie
seit Tagen nicht mehr richtig geschlafen. »Was ist denn mit dir,
meine Kleine?«, fragte sie, indem sie sich auf die Bettkante
setzte und Lauries Hand nahm.
Die Finger waren eiskalt.
Laurie zuckte mit den Achseln. »Ich weiß» nicht. Mit geht es
nicht so gut.«
»Warum hast du mich nicht gerufen? Oder hast mich
geholt?«, fragte Caroline erstaunt.
»So krank bin ich nun auch wieder nicht, Mom«, begann
Laurie. »Ich bin nur sehr müde und –«
Plötzlich fing Chloe an zu knurren, stand auf und bellte.
Einen Augenblick später erschien Tony mit einem Tablett in
der Hand an der Tür, darauf ein Glas Orangensaft, eine Tasse
mit Untertasse, eine dampfende Teekanne und ein Teller, der
mit einer Aluminiumhaube zugedeckt war wie im Restaurant.
»Meine beiden Mädchen sind aufgewacht«, rief er fröhlich und
hauchte Caroline einen Kuss auf die Lippen, ehe er das Tablett
vorsichtig vor Laurie auf die Bettdecke stellte und die
seitlichen Stützen ausklappte. Chloe, die sich vertrieben fühlte,
sprang vom Bett und lief aus dem Zimmer. »Brauchst du noch
ein Kissen?«, erkundigte sich Tony freundlich und hob den
Deckel von dem Teller. Sogleich verbreitete sich der Duft von
Eiern mit Schinken im Zimmer.
Laurie schüttelte den Kopf und starrte auf den Teller. Neben
den Eiern mit Schinken lag so ein Muffin, wie ihn Virginia
Estherbrook an dem Tag, als sie aus dem Urlaub gekommen
waren, mitgebracht hatte, und eine halbe, mit einer
Maraschino-Kirsche verzierte Grapefruit.
»Tony, sie ist krank«, protestierte Caroline. »Sie sollte
höchstens ein bisschen Saft und eine Tasse Tee trinken.«
»Moment, ich bin unschuldig«, verteidigte sich Tony und
hob abwehrend die Hände in die Höhe. »Ich nehme nur die
Bestellungen entgegen und bereite das Essen zu.«
»Ich habe ja keine Grippe oder eine Erkältung«, erklärte
Laurie. »Ich hatte nur ein paar blöde Träume, die mich wach
gehalten haben und –«
»Aber du siehst fürchterlich aus«, warf Caroline ein. »Und
deine Hände sind wie Eiszapfen. Ich werde Dr. Hunicutt
anrufen.«
»Ich habe bereits Dr. Humphries verständigt«, sagte Tony.
»Dr. Humphries?«, fragte Caroline verwundert. »Warum
hast du ihn gerufen? Dr. Hunicutt kümmert sich schon seit
ihrer Geburt um die –«
»Ich habe ja versucht, ihn zu erreichen«, fiel ihr Tony ins
Wort. »Er hatte gerade einen Patienten, und seine Sprechstundenhilfe sagte mir, dass er anschließend sofort ins
Krankenhaus müsse, und deshalb schien es mir angeraten, Ted
Humphries anzurufen. Immerhin ist er ein Freund und macht
noch Hausbesuche.«
Da klingelte es schon an der Tür, und Tony ging, um
aufzumachen. Ein paar Minuten später kam er mit Dr.
Humphries zurück, der eine dieser schwarzen Arzttaschen in
der Hand trug, von denen Caroline angenommen hatte, dass sie
nur noch in alten Filmen existierten. Dr. Humphries’ Tasche
jedoch sah recht neu, wenn auch benutzt aus.
Die Hand auf Lauries Stirn gelegt, beugte sich Dr.
Humphries über sie und meinte zwinkernd: »Ich nehme an, du
gehörst nicht zu den
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