Mittsommersehnsucht
fest ihre Hand. »Doktor Andrea, ich bin’s, Ole!«
»Ole?« Mühsam, so, als bedeute es eine ungeheure Kraftanstrengung, hoben sich Andreas Lider. »Wie kommst du hierher?«
Der alte Mann zuckte mit den Schultern. Ein kleines Lächeln umspielte seinen Mund, so dass man das Fehlen eines Zahns sehen konnte. »Berit, unsere Schamanin, schickt mich. Sie sagt, du sollst dieses Fell unter deinen Kopf legen.«
»Warum das denn?«
Ole zögerte. Er wusste, dass es schwer war, Menschen, die nicht zu seinem Volk gehörten, zu erklären, dass Schamanen über geheimnisvolle Kräfte verfügten. Belächelt wurde man dann oft, hin und wieder sogar verspottet. Im günstigsten Fall wurde das, was ein Schamane riet, einfach ignoriert.
»Das Fell hier …«, er hob es hoch, »ist das Fell von Kims Rentier. Es starb drei Tage, nachdem Kim zu den Ahnen gegangen ist.«
»Kim …« Andreas Blick verlor sich wieder in der Ferne des Horizonts, wo jedoch die kleine Wolke mit dem roten Rand nicht mehr zu sehen war. »Sie war so tapfer.«
»Ja. Zum Glück hat sie nicht mehr lange leiden müssen.« Ole nahm Andreas Hand. »Sie hat noch ein paar Mal von dir gesprochen. Sie hat dich gemocht.«
»Ich sie auch.«
»Sie ist friedlich eingeschlafen nach einem Beruhigungstrunk der Schamanin.« Ein Lächeln huschte über sein wettergegerbtes Gesicht. »Der Himmel war voller Sterne, als sie sich auf den Weg gemacht hat.«
»So viele Sterne waren zu sehen?«
»Ja. Es war seltsam. Trotz der hellen Nächte, die wir noch hatten, waren auf einmal eine Unmenge Sterne zu sehen.« Ole räusperte sich. »Bitte, Doktor Andrea, nimm das Fell und leg es dir unter den Kopf. Berit hat gesagt, es sei wichtig. Sie hat mich gedrängt, so schnell wie möglich zu dir zu fahren …« Er schwieg einen Moment, dann fuhr er leise fort: »Sie weiß, was sie sagt. Und man tut gut daran, ihr zu gehorchen.«
Andrea schüttelte vorsichtig den Kopf. Sie hatte in den letzten Tagen erkannt, dass sie mit ruckartigen Bewegungen vorsichtig sein musste, kleine, schmerzhafte Stiche waren oft die Reaktion auf zu schnelle Kopfbewegungen.
»Folge Berits Rat.« Ole ließ sich nicht abweisen. Er hob kurz Andreas Kopf an und schob ihr das weiche weiße Fell darunter.
»Hey, was machst du da?« Unbemerkt war Magnus zurückgekommen. Er hatte den Stationsarzt nicht angetroffen, aber kurz mit Chefarzt Dr. Treborg sprechen können, der ihm erklärt hatte, dass sich wohl unter der leichten Schädelfraktur ein Hämatom gebildet hatte. »Weg vom Bett!«
Abwehrend hob Ole die Hände. »Ich will ihr nichts tun, keine Sorge.«
»Schon gut.« Andrea streckte den Arm nach Magnus aus. »Er ist ein Freund.«
Sie versuchte zu erklären, dass Ole ihr ein Rentierfell gebracht hatte – und warum. Als der alte Same merkte, wie schwer es ihr fiel, die Sätze zu formulieren, vervollständigte er ihre Erklärungen und berichtete Magnus, was die alte Berit ihm aufgetragen hatte.
»Ein Tierfell unterm Kopf … so ein Unsinn!«
»Sag das nicht. Berit weiß, was sie sagt und tut. Und sie wollte, dass ich mich so schnell wie möglich auf den Weg zu Doktor Andrea mache.« Er blickte zu der jungen Frau im Bett, die mit geschlossenen Augen dalag. Das Fell unter ihrem Kopf schimmerte wie frisch gefallener Schnee, als jetzt die Sonne darauf schien. »Doktor Andrea hat so viel für uns getan …« Er fuhr sich kurz über die Augen. »Sie hat einem kleinen Mädchen aus meinem Stamm geholfen – und mir.«
»Dir? Warst du krank?«
»Nein. Aber sie hat letztendlich dafür gesorgt, dass sich meine Unschuld herausgestellt hat.«
Magnus fasste sich kurz an den Kopf. »Stimmt, mir fällt deine Geschichte wieder ein. Andrea hat davon erzählt, dass man dich zu Unrecht verdächtigt hat, einen Raubüberfall begangen zu haben.«
Ole nickte. »Sie hat der Kommissarin, die mit uns auf dem Postschiff war, davon erzählt, und die hat die Ermittlungen wieder aufgenommen.« Ein dankbarer Blick ging zu Andrea, die tief und fest schlief. »Ihr verdanke ich mein Leben als freier Mann.« Er wandte sich zur Tür. »Leb wohl. Viel Glück für euch beide. Und … lass ihr das Fell.«
»Meinetwegen.« Magnus nickte dem Alten zu, dann setzte er sich neben Andreas Bett und hielt ihre Hand, bis die Schatten draußen vor dem Fenster immer länger wurden.
56
D rei bucklige Trolle tanzten um ihr Bett herum, sie kicherten und lachten. Einer von ihnen zeigte auf sein verbundenes Bein, dann, ganz plötzlich, riss er sich die Mullbinde
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