Mittsommersehnsucht
ab und streckte das Bein weit von sich. »Kommt mit zum Troll-Fjord! Wir wollen feiern, dass Andrea gesund ist, so wie ich. Kommt alle mit!« Und die beiden anderen folgten ihm zum Fenster hinaus.
Andrea zögerte. Sollte sie einfach vom Fensterbrett springen, so wie die kleinen Wichte? Sie versuchte sich aufzurichten, doch da war auf einmal Kim. Kim, die sich auf ihr Bett setzte und sie mit Gewalt zurückhielt.
»Lass mich«, murmelte Andrea.
»Nein, du musst noch hierbleiben. Sei ganz ruhig, wir sehen uns später wieder.« Dann pfiff sie leise, und durch das Fenster kam ein kleines weißes Rentier. Es knickte in den Vorderläufen ein, so dass sich Kim bequem auf seinen Rücken schwingen konnte. »Adieu, Andrea. Viel Glück!« Kim winkte, dann sprang das Rentier so wie die Trolle aus dem Fenster.
»Liebes, ganz ruhig. Du hast geträumt.« Magnus hielt sie umschlungen und hinderte Andrea daran aufzustehen. »Alles wird gut, ich bin ja bei dir.«
Verwirrt rieb sich Andrea über die Augen. Ihr Blick ging von Magnus zum Fenster. Hin und zurück. Immer wieder. Aber da war nichts, die Lamellenvorhänge waren zugezogen, sperrten die Dämmerung draußen aus.
»Verrückt«, flüsterte Andrea.
»Was ist verrückt?«
»Der Traum.« Sie lehnte sich in seinem Arm zurück. »Aber du bist Wirklichkeit.«
»Spürst du es nicht?« Sanft küsste er sie.
»Hm … tut gut.«
»Wenn ich dich mit Küssen rascher gesund machen könnte, würde ich dich vierundzwanzig Stunden am Tag küssen«, sagte er und lächelte.
»Wie anstrengend!« Sie streichelte seine Wange. »Ich liebe dich.«
»Und ich liebe dich.« Er hob ihre Hand an die Lippen, dann spielte er mit ihren Fingern, die ihm auf einmal sehr zerbrechlich und dünn vorkamen.
»Dürfen wir stören?« Birgit und Johan Ecklund traten nach kurzem Klopfen ein.
»Ihr stört doch nicht!«
Dr. Ecklund nahm ihre Hand. »Und? Wie fühlst du dich heute? Noch Kopfschmerzen?« Sechs Tage waren vergangen, seit der alte Ole das Rentierfell in die Klinik gebracht hatte. Und obwohl man ihr Tun belächelte, ließ man Andrea das weiße Fell.
»Ich schlafe gut damit«, hatte sie dem Chefarzt am zweiten Tag erklärt. »Ob du es glaubst oder nicht, ich fühle mich ruhiger.«
Zur Überraschung der Mediziner ging es Andrea schon bald viel besser. Ihre Sprachstörungen waren fast ganz verschwunden, und die Feinmotorik ihrer Finger war seit gestern wieder ganz in Ordnung. Sie konnte exakt greifen, sogar die kleinen Perlmuttknöpfe des warmen Nachthemds, das ihr Birgit gekauft hatte, konnte sie wieder allein schließen; das war vor drei Tagen noch nicht möglich gewesen.
»Treborg will gleich noch mal eine CT vornehmen«, berichtete Johan Ecklund. Er lächelte Andrea aufmunternd an. »Ich bin mir aber sicher, dass er nichts mehr feststellen wird. Aber es ist in Ordnung, dass er bei dir, einer Kollegin, besonders sorgfältig vorgeht und jede Untersuchungsmöglichkeit nutzt. Ich denke aber, dass du gesund bist. Und deshalb sag ich es jetzt schon …«
»Johan! Du bist unmöglich.« Birgit schob ihn zur Seite. »Wir wollen Andrea doch nicht aufregen.«
»Wer sagt, dass es sie aufregt?«
»Was? Ihr sprecht in Rätseln.« Andrea setzte sich im Bett auf und sah fragend von einem zum anderen.
»Na ja … Birgit hat recht. Warten wir, bis du entlassen worden bist.« Der alte Landarzt ging zum Fenster und sah durch die spaltbreiten Öffnungen der Lamellen hinaus.
»Das ist gemein!« Andrea lachte leise. »Ihr wisst genau, dass ich neugierig bin.«
»Wenn’s gestattet ist, ich auch«, warf Magnus ein.
»Also, red schon. Ich bitte dich.« Andrea sah Johan, der sich jetzt langsam vom Fenster abstieß und wieder zu ihrem Bett kam, aufmerksam an. Das Harte, Abweisende, das sie noch vor kurzem in seinem Gesicht zu lesen geglaubt hatte, war weg. Er wirkte ruhig und gelassen, und als er sich neben sie setzte und ihre rechte Hand ergriff, war das beinahe so etwas wie eine väterliche Geste.
»Ich habe mich noch einmal gründlich untersuchen lassen«, begann der alte Landarzt von Stamsund. »Und ich muss einsehen, dass ich mein Arbeitspensum nicht mehr bewältigen kann. Entweder werden die meisten der Patienten in Zukunft zur Untersuchung in eine Klinik gehen müssen, oder sie werden sich einen anderen Arzt suchen, der dann weiter entfernt wohnt. Und es gibt leider nicht viele, die auf den Lofoten eine eigene Praxis betreiben.«
»Du willst aufhören?«
»Nicht ganz.« Johan schüttelte den Kopf.
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