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Mittsommersehnsucht

Mittsommersehnsucht

Titel: Mittsommersehnsucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elfie Ligensa
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sie.
    »Warum?«
    »Sie braucht Hilfe.«
    »Wer?«
    »Die Ärztin.« Berits Blick verschleierte sich, während ihre Hände immer rascher das weiße Rentierfell streichelten. Still sah ihr Ole zu. Er kannte das schon … die Schamanin hatte jetzt wieder eine ihrer Visionen, sah Dinge, die dem Auge eines normalen Menschen vorenthalten blieben.
    Es dauerte etwa fünf Minuten, dann erklärte Berit mit ruhiger Stimme: »Du solltest dich schnell auf den Weg machen, Ole. Es ist wichtig. Und nimm das Fell hier mit.« Sie rollte das weiße Fell zusammen und verknotete es mit einem blauroten Leinenband. »Sie muss es sich unter den Kopf legen. Sag ihr das: unter den Kopf!«
    »Aber …«
    »Frag mich nicht, Ole. Tu, was ich sage.« Eindringlich sah sie ihn an, während sie ihm das Fell zuschob.
    »Gut, wenn du es unbedingt willst …« Er schaute auf die Uhr. »Morgen nehme ich mir ein Boot, das mich zum Anleger der Hurtigruten bringt.«
    »Nein, Ole, heute noch.« Sie legte ihre Hand auf seine. Ole bemerkte die feinen Adern, die sich unter der braunen Haut abzeichneten. Berit hatte abgearbeitete, harte Hände mit rauen Schwielen. Und doch wirkten ihre Finger langgliedrig und zart, als sie jetzt nochmals sanft über das weiße Rentierfell strich.
    »Das Postschiff ist schon fort«, wandte Ole ein.
    »Dann fahr mit einem Boot hinterher.« Wieder ging Berits Blick in die Ferne. Sie sah Ole nicht mehr an, als er aufstand, sich schweigend das Fell unter den Arm klemmte und dann hinüber zu einem der jungen Männer ging, die ein Motorboot besaßen.
    Sigurd war etwa zwanzig Jahre alt und hatte in den letzten Wochen nichts als Rentiere gesehen. Für den Abend war er mit einigen Freunden im etwa dreißig Kilometer entfernten Ort verabredet. Sie hatten ein paar neue Computerspiele im Internet bestellt und wollten sich damit amüsieren. Dass er den alten Ole fahren sollte, passte ihm gar nicht.
    »Keine Zeit«, knurrte er. »Frag doch Ingvar. Der sitzt drüben am Feuer und schnitzt vor Langeweile wieder an irgendwas rum.«
    »Nein, dein Boot ist schneller. Und Berit besteht drauf, dass ich so schnell wie möglich losfahre.«
    »Berit … hat sie wieder das Zweite Gesicht?« Sigurd runzelte die Stirn. So aufgeklärt und modern er auch war, schließlich wollte er im nächsten Jahr in Tromsø zur Uni gehen und Biologie studieren, vor Berits Ahnungen hatte er einen Heidenrespekt.
    »Ja. Scheint so.«
    »Dann komm. Beeilen wir uns, ehe es dunkel wird.«

55
    H allo, Kollegin, wach werden!« Mit einem Lächeln betrat Dr. Eidsvag Andreas Zimmer. Dicht hinter ihm kam Klaas Treborg herein, er war der neurologische Chefarzt der Klinik von Gravdal.
    Langsam drehte sich Andrea um. Seit dem frühen Morgen schaute sie wie paralysiert aus dem Fenster. Am hellblauen Himmel zogen die Wolken dahin wie jeden Tag. Heute waren es kleine weiße Wolken, die anhaltend schönes Wetter versprachen. Für Andrea aber sah die Welt zurzeit düster und bedrohlich aus. Am Morgen hatte Dr. Treborg persönlich die Computertomografie vorgenommen.
    »Wir müssen uns Klarheit verschaffen«, hatte er gesagt. »Du bist schließlich nach dem Schuss zu Boden gestürzt. Deshalb sollten wir kleinere Hirnblutungen oder eine Hirnkontusion bildgebend ausschließen.«
    »Und wenn es das nicht ist?« Mit einem Mal sah Andrea die Horrorvision eines Hirntumors vor sich. Hin und wieder litt sie unter starken Kopfschmerzen, vor allem in Düsseldorf war sie regelmäßig von heftigen Schmerzattacken gequält worden.
    »Wir wollen nicht spekulieren. Wichtig ist jetzt, dass wir Gewissheit bekommen.« Dr. Treborg wirkte ruhig, doch er konnte die junge Kollegin nicht täuschen. Andrea wusste, wie diffizil eine exakte Diagnose sein konnte.
    Langsam bewegte sie die Finger … waren sie nicht oft taub? Sie versuchte, mit dem Zeigefinger die Nase anzustupsen, und atmete auf, als es gelang.
    Na, geht doch, sagte sie sich. Die lieben Kollegen sind viel zu vorsichtig. Dr. Eidsvag hat in der Klinik von Svolvær nicht die Möglichkeiten gehabt, die sich hier boten. Er wollte einfach die beste Behandlung für mich.
    »Und?« Fragend sah sie von einem zum anderen.
    Klaas Treborg, ein hagerer Mann mit einer runden Hornbrille, hinter der seine hellen Augen übergroß wirkten, nahm ihre Hände. »Ich habe links am Schädel eine dünne Frakturlinie ausgemacht. Wahrscheinlich hat sich darunter ein epidurales Hämatom gebildet.«
    Andrea presste die Lippen aufeinander. »Und was jetzt?«
    Der Neurologe

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