Mittsommersehnsucht
Sirenengeheul näher kam.
Magnus und James sahen stumm zu, wie zwei Polizisten in einem Beiboot zur Unglücksstelle fuhren. Einer, der einen Tauchanzug trug, sprang ins Wasser, gesichert von einer starken Leine, die am Beiboot festgemacht war.
Lars blieb mit der Black Nessy in gebührendem Abstand von der Unfallstelle, doch er hielt Funkkontakt mit einem der Polizisten. Nach einigen Minuten winkte er Magnus zu sich: »Da ist ein Funkspruch für dich.«
»Was sagst du?«
»Eine Kommissarin will mit dir reden.« Lars brüllte, so laut es ging, doch Magnus hörte ihn nicht. Aber er reagierte auf Lars’ Winken.
»Ich komme!«, brüllte er zurück und stemmte sich gegen den Wind, der jetzt wieder stärker von Nord blies. Als er die Tür zum schmalen Ruderhaus öffnete, riss ihm der Sturm die Klinke aus der Hand. Mit lautem Knall fiel die Holztür zu.
»Das hat der Irre in der Yacht nicht überlebt.« Lars wies mit starrer Miene hinüber zu dem schnittigen Boot, das jetzt mit starker Schlagseite auf dem Wasser trieb. Dann zeigte er zum Funkgerät.
Magnus meldete sich, und zu seiner Überraschung hörte er Carinas Stimme. »Magnus, das ist Tom! Wir haben ihn verfolgt, doch der Verrückte … er wollte nicht beidrehen.«
»Tom Rheenhus?«
»Ja. Ein junger Bursche, der als Hilfskraft im Hafen von Alta arbeitet, hat ihn beobachtet, als er die Yacht gestohlen hat. Dabei lag sie dort vor Anker, weil unter anderem das Radargerät defekt ist.«
»Dann war er chancenlos …«, murmelte Magnus.
»Du sagst es. Bei diesem Sturm, und in dem gefährlichen Seegebiet … es war Selbstmord, hierher zu flüchten.«
»Und jetzt?« Er sah starr geradeaus, doch was auf der Yacht und im Beiboot der Polizei geschah, konnte er nicht ausmachen.
»Meine Kollegen haben versucht, ihm zu helfen, aber zu spät. Er ist mit dem Kopf gegen irgendwas geknallt und dann ertrunken. Mehr weiß ich noch nicht. Du, ich melde mich später bei dir. Jetzt muss ich mich um meinen Job kümmern.«
»Danke, Carina. Ich bin auf dem Weg zu Andrea.«
»Dachte ich mir.« Es knackte, und die Verbindung war unterbrochen.
»Wir fahren weiter, einverstanden?« Lars trat neben Magnus und sah ihn fragend an.
»Ja … klar. Hier können wir doch nichts tun.«
»Also dann …« Lars drehte ab, und innerhalb weniger Minuten blieb die Unfallstelle hinter ihnen zurück. Magnus sah sich noch mehrfach um, doch außer dem Blinken des Blaulichts war alles wieder im Nebel versunken. Und auch dieser grelle Schein war irgendwann nicht mehr zu sehen.
Nachdenklich stand Magnus noch eine Weile neben Lars und schaute aufs unruhige Meer. Tom Rheenhus war tot. Auf der Flucht verunglückt. Gerechtigkeit des Schicksals? Zufall? Vielleicht war der Unfall sogar von ihm provoziert? Wer konnte das sagen?
Die Nebelschleier lichteten sich, und für einen flüchtigen Moment glaubte Magnus ein rotgoldenes Licht am Horizont zu sehen.
54
M ehr als hundertdreißig Rentiere waren bereits geschlachtet worden, die Felle hingen zum Trocknen aus, das Fleisch war in einen der modernen Kühlwagen gebracht worden, die heutzutage zum Schlachttermin hergefahren wurden.
Auf einem großen Haufen lagen die Geweihe der toten Tiere. Hieraus würde man später Messerknäufe, Werkzeug und Knöpfe herstellen. Nichts, so war es seit Menschengedenken bei den Samen, ging von einem Rentier verloren. Alles wurde verwertet, vom wertvollen Fleisch angefangen übers Fell bis hin zu dem nicht allzu harten Geweih.
Auf einem kleineren Haufen lagen die Ohren der Tiere mit den Kennmarken. Hieran würde man später die Besitzer der Schlachttiere ermitteln können.
Berit und Ole hatten dieses Ritual in ihrer Jugend oft mitgemacht, jetzt waren sie zu alt, sahen von weitem zu, wie sich die jungen Männer abmühten, die aufgeregten Tiere zu fangen und mit einem kurzen Messerstich zu töten.
»Die Herde ist kleiner geworden«, stellte Ole fest.
»Ja.« Berit seufzte. »Es sind zu viele der jungen Leute in die Stadt gegangen. Wäre die Herde größer, dann könnten wir sie nicht mehr kontrollieren.«
»Die Zeiten ändern sich.« Ole zog an seiner Pfeife. Seine Blicke gingen von dem Berg mit Rentiergeweihen hinüber zur goldrot leuchtenden Landschaft, die sich in sanften Hügeln bis zum Horizont erstreckte. »Wie lange werden wir noch so leben können wie unsere Vorfahren?«
»Ich bis ans Ende meiner Tage.« Berit griff neben sich und zog das Fell eines weißen Rentiers näher zu sich. »Ole, du musst fort«, sagte
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