Mittwinternacht
nämlich die tollsten Märchen entstehen.»
«Klar», sagte Lol. Langsam wurde er ziemlich wütend.
«Wir verstehen uns, Kumpel.» Dick klopfte ihm auf die Schulter.
Endlich taute es. Wolken ballten sich um den Mond, während Lol die Hauptstraße in Richtung der Stadtmauer überquerte.
Diese CD würde der letzte Auftrag sein, den er für Dick Lyden erledigte. Bei seinem Psychologiekurs in der Abendschule war er auch schon seit zwei Wochen nicht mehr gewesen.
Die Stadtmauer glitzerte im Mondlicht.
Also würde die Version von Moons Tod, die bei der amtlichen Untersuchung herauskommen würde, nicht stimmen. Das Urteil würde – wenn nicht die Obduktion noch etwas Unerwartetes erbrachte – auf Selbstmord in einer Phase emotionaler Instabilität lauten.
«Und als Sie sich am Samstagabend vor ihrer Tür von ihr verabschiedet haben, wie würden Sie Mrs. Moons Verfassung zu diesem Zeitpunkt beschreiben?»
«Irgendwie … konzentriert. Sie recherchierte für ein Buch zu ihrer Familiengeschichte. Ich hatte den Eindruck, dass sie es kaum erwarten konnte, damit weiterzumachen.»
Und das stimmte. Als er gegangen war, gab es überhaupt keinen Hinweis darauf, dass sie …
«Wenn du die Polizei wärst
»
, hatte Denny gesagt,
«würdest du dann irgendwelche Hinweise auf übernatürliche Vorfälle hören wollen?»
Warum hatte Denny das gesagt? Es war das erste Mal gewesen, dass er im Zusammenhang mit Moon das Übersinnliche erwähnt hatte. Aber wie gut kannte er Denny eigentlich? Er wusste nur, dass Denny versuchte, sich vor unausgesprochenen Ängsten zu schützen. Hätte er vielleicht lieber Denny statt Dick von der Krähe erzählen sollen und davon, dass Moon ihren Vater gesehen hatte …?
Oh, verdammt!
Lol stand auf der mittelalterlichen Brücke und sah auf den Wye hinunter. Er wusste nicht, was er tun sollte, wie es für ihn weitergehen sollte. Wieder einmal hatte er die Orientierung im Leben verloren. Mit Dick zu arbeiten war wenigstens ein gewisser Halt gewesen, auch wenn es sich nicht ganz
richtig
angefühlt hatte.
Er setzte seinen Rundgang fort. Bald würde er wieder an der Hauptstraße sein. Er fühlte sich ziellos, oder näher an der Wahrheit, er fühlte sich wie ein Psychiatriepatient, der wieder in die Gesellschaft zurückkehrt. Abrupt wandte er sich um und ging die Bridge Street hinauf.
Zwei junge Frauen kamen nicht weit vor ihm aus einem dunklen Hauseingang, und er sah im Licht einer Schaufensterbeleuchtung, dass die eine von ihnen Jane Watkins war. Vielleicht hatte sie ihn bemerkt. Jedenfalls wurde ihr Gang plötzlich schneller, und sie entfernte sich eilig von ihm, ein paar Schritte vor ihrer Begleiterin.
Der Eingang gehörte zum
Pod’s
, dem alternativen Café. Er war erst einmal drinnen gewesen. Es war ein düsterer Laden mit rustikalen Holztischen und klapprigen Stühlen, die nach secondhand aussahen. Die Leute aus der Alternativszene standen eben aufRecycling und nicht auf Kinkerlitzchen. An den weißgestrichenen Wänden hingen in schmalen schwarzen Rahmen Billigdrucke von Mervyn-Peake-Zeichnungen: verdrehte Gestalten, spindeldürre Gestalten und fette Gestalten in bedrückenden Landschaften. Lol erinnerte sich, unter einem Bild, das eine alte Vettel mit einer Kröte gezeigt hatte, eine Soja-Würstchen-Roulade gegessen zu haben. Er war nicht lange geblieben.
Als sie ins Haus kam, fütterte sie Ethel und ging anschließend hinauf ins Badezimmer, das immer noch an ein öffentliches Bad aus den fünfziger Jahren erinnerte, mit seinen schwarzweißen Fliesen und der Dusche von den Ausmaßen einer Straßenlaterne. Sie hörte Janes Schlüssel in der Tür, aber es dauerte noch eine ganze Weile, bis sich Merrily in der Lage fühlte, hinunterzugehen.
«Dir ist schlecht», sagte Jane, die von dem Omelett aufgesehen hatte, das sie in der Pfanne rührte. Beim Anblick des gelben Geschlabbers hätte sich Merrily beinahe übergeben.
Sie schauderte in ihrem Hausmantel. «Es tut mir leid, Spatz, ich kann nichts … essen.»
«Ich gehe morgen besser nicht in die Schule und kümmere mich um dich», sagte Jane sofort, «wenn es dir dann noch nicht gutgeht.»
«Nein danke … ich meine, ganz bestimmt nicht.»
«Wie lange bist du schon zu Hause?»
«Noch nicht lange.» Merrily lehnte sich neben ihrer Tochter an die Chromstange des Aga-Herdes.
«Wie ist es gelaufen?»
«Gut, schätze ich.»
«War dir da schon schlecht?»
«Ja. Ich … ich konnte es nicht machen. Aber Huw war da.
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