Mittwinternacht
Anruf war der einzige, den Merrily beantwortete. Eine Pflegerin ging ans Telefon und erklärte, Mrs. Thorpe sei nach Hereford auf den Markt gefahren. Um keine Gelegenheit zu haben, es sich noch einmal anders zu überlegen, sagte Merrily: «Richten Sie ihr doch bitte aus, dass es bei unserer Vereinbarung bleibt.»
Sie war reichlich unsicher, was diese Sache anging, aber sie wollte unbedingt mit Susan Thorpes Mutter sprechen, um möglichst viel über Thomas Dobbs zu erfahren.
Außerdem war es nur ein
Abdruck
: umgelenkte Energien. Damit würde sie klarkommen, wenn sie sich selbst schützte, oder etwa nicht?
Sie zündete sich eine Zigarette an und nahm das Telefonbuch zur Hand. Das hätte sie schon vor Tagen tun sollen.
Napier.
Überraschenderweise gab es in Credenhill drei Napiers. Ob sich Rowennas Vater als SA S-Offizier überhaupt hatte eintragenlassen? Sie rief bei der ersten Nummer an – niemand nahm ab. Bei der zweiten Nummer ging eine Frau ans Telefon, und Merrily fragte, ob Rowenna dort wohnte.
Die Frau lachte kurz auf. «Jedenfalls schläft sie hier … manchmal.» Der Akzent klang nach London.
«Spreche ich mit Mrs. Napier?»
«Nein, hier ist Mrs. Straker.»
«Könnte ich vielleicht mit Mrs. Napier sprechen?»
«Das weiß ich nicht, meine Liebe. Das hängt davon ab, ob Sie sich ein Ferngespräch leisten können.»
Merrily sagte nichts.
«Ich bin Rowennas Tante», fuhr Mrs. Straker etwas ungeduldig fort, als hätte sie das schon viel zu oft erklären müssen. «Ich kümmere mich für Steve um die Kinder. Er ist mein jüngerer Bruder. Helen und er haben sich schon vor Jahren getrennt. Sie lebt jetzt in Kanada. Wenn Sie mit Steve sprechen möchten, müssen Sie heute Abend nochmal anrufen.»
«Bitte entschuldigen Sie. Das wusste ich alles nicht. Ich bin Merrily Watkins aus Ledwardine. Meine Tochter Jane ist anscheinend Rowennas beste Freundin in der Schule.»
Keine Reaktion. So etwas hatte sie nicht erwartet. Sie hatte sich mit einer warmherzigen, besorgten Mutter unterhalten wollen, die sich darüber freute, dass Janes Mutter anrief.
«Ich kenne keine Jane», sagte Mrs. Straker. «Sehen Sie, Mrs. …»
«Watkins. Merrily.»
«Ja. Sehen Sie, seit ihr Vater ihr dieses Auto gekauft hat, wissen wir nie, wo sie gerade ist. Ich hätte es ihr nicht geschenkt. Ich finde, sie sollte erst ein Auto haben, wenn sie am College ist oder arbeitet, aber Steve ist zu nachgiebig, und jetzt fährt sie, wohin sie will. Abgesehen davon bringt sie ihre Freundinnen nie mit nach Hause. Und die Männer übrigens auch nicht.»
Merrily wurde klar, dass ihre Vorstellung von Rowennas Familienverhältnissen hinten und vorne nicht stimmte.
«Manchmal», sagte Mrs. Straker, «habe ich das Gefühl, ich müsste mich mehr um sie kümmern, aber als sie die ganze Zeit zu Hause war, gab es nichts als Streit und Geschmolle, und dieses Haus hier ist ziemlich eng für uns fünf. Wo wir vorher waren, in Salisbury, gab es auch eine Menge Probleme, aber wenigstens war das Haus größer.»
«Ich vermute, dass Ihr Bruder viel unterwegs ist.» Merrily hatte gehört, dass man als Mitglied des SAS nie wissen konnte, ob man nicht morgen nach Bosnien oder sonst wohin beordert wurde.
«Nein, eigentlich nicht», sagte Mrs. Straker.
«Aber Ihr Bruder ist doch Offizier beim Militär, oder?»
Mrs. Straker lachte. «Das hat sie Ihnen also erzählt?»
«Nicht direkt», sagte Merrily. Es war Jane gewesen, die ihr das erzählt hatte.
«Steve ist Corporal. Er arbeitet bei der Verwaltung.»
«Ich verstehe.»
«Das ist Rowenna offensichtlich nicht gut genug. Sie lebt in einer Phantasiewelt. Steve sieht das nicht oder will es nicht sehen. Ich weiß nicht, wie
Ihre
Tochter so ist, Mrs. Watson.»
«Leicht zu beeindrucken.» In Merrilys Magen bildete sich ein Knoten. «Sie geht in letzter Zeit ziemlich oft abends weg, und sie sagt mir nicht immer, wo sie ist. Ich mache mir ein bisschen Sorgen – deshalb rufe ich an.»
«Sie sollten auf sie aufpassen», sagte Mrs. Straker. «Ich rate Ihnen, sie gut im Auge zu behalten.»
«Warum sagen Sie das?»
«Mmmh.» Mrs. Straker hatte offenbar einiges dazu zu sagen, wollte sich aber noch ein bisschen bitten lassen.
Merrily sagte: «Es ist nicht ganz leicht für mich, Jane ständiggenau im Auge zu behalten, wissen Sie? Ich bin alleinerziehend und berufstätig.»
«Geschieden?»
«Verwitwet.»
«Ich bin auch Witwe», sagte Mrs. Straker. «Es ist nicht leicht,
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